© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Immer weniger Wege führen nach Rom
Italien: Der „Fall Rackete“ führt die Regierung auf ein neues Zustimmungshoch / Strafverschärfung angedroht
Marco F. Gallina

Der Urheber des folgenden Zitats will anonym bleiben: „Wer das Gesetz bricht, wird als Heldin gefeiert, und wer sein Vaterland verteidigt, wird als Verbrecher behandelt.“ Er gehört der Guardia di Finanza (GdF), der italienischen Finanzpolizei, an. Gegenüber der Nachrichtenagentur Adnkronos macht er seinem Ärger Luft über das, was im Meer südlich von Lampedusa geschieht. „Das ist doch absurd“, meint der Beamte, „wir haben nur Befehle ausgeführt.“ Die GdF ist im Grenzschutz involviert. 

Der Zorn richtet sich gegen die Justiz. Die hatte vergangene Woche die Skipperin der Sea-Watch 3, die Deutsche Carola Rackete, auf freien Fuß gesetzt.

Rackete war ohne Erlaubnis in den Hafen von Lampedusa eingefahren und hatte beim Anlegemanöver ein Zollschiff der GdF abgedrängt. Die Staatsanwaltschaft unter Luigi Patronaggio sprach von einem „Gewaltakt gegen ein italienisches Kriegsschiff“. Die Richterin Alessandra Vella, die Rackete auf freien Fuß setzte, sprach jedoch dem Zollschiff jeden hoheitlichen Status ab und ließ die Anklage fallen. „Selbst Kinder wissen, daß ein Schiff der GdF ein Kriegsschiff ist, es führt die Flagge der Kriegsmarine“, betont der Finanzpolizist.

Nicht nur bei der GdF führte Vellas Begründung zu Irritationen. In der italienischen Öffentlichkeit hatte nicht so sehr das unerlaubte Eindringen der Sea-Watch in die Hoheitsgewässer, als vielmehr die riskante Anlandung die Gemüter erhitzt. Die fünf Besatzungsmitglieder hatten nur durch ein schnelles Manöver dem 400-Tonnen-Rettungsschiff entweichen können.

Daß sich eine ausländische Nichtregierungsorganisation (NGO) nicht nur über nationalstaatliche Gesetze erhebt, sondern auch noch das Leben italienischer Beamter bedroht und dann ohne Strafe davonkommt – von den Alpen bis nach Lampedusa ein Affront. Die Richterin dürfte derzeit die meistgehaßte Person des Landes sein. Vella löschte wegen unzähliger Beleidigungen und Beschimpfungen ihren Facebook-­Account, eine Frau aus Benevent erstattete Anzeige wegen falscher Annahmen im Urteil, und zuletzt erhielt die Richterin sogar Morddrohungen.

NGOs spekulieren nach Freilassung auf Präzedenzfall

Innenminister Matteo Salvini, der noch am Dienstag seine Niederlage zerknirscht zugeben mußte, könnte aus der „Causa Rackete“ noch Vorteile ziehen. Laut Corriere della Sera liegt seine Partei seit dem Wochenende auf einem Umfrage-Rekordhoch – bei 38 Prozent. Aber auch jenseits seiner Parteigänger kann Salvini auf breite Unterstützung bauen: 59 Prozent der Befragten äußerten, daß sie sich „sehr“ für die Regierungslinie hinsichtlich der geschlossenen Häfen aussprächen, weitere 25 Prozent sprächen sich „eher“ für die Regierungslinie als für offene Häfen aus. Nur 29 Prozent der Italiener bezeichneten Salvinis Migrationspolitik als Fehler. In einer vergangenen Umfrage hatten noch 40 Prozent der Italiener das Vorgehen Racketes gutgeheißen. Jetzt sind es nur noch 23 Prozent.

Die Migrationsfrage wird in Italien zur Souveränitätsfrage. Bisher hatte nur die Brüsseler Finanzpolitik dieselbe Sprengkraft. Während die Niederlande, unter deren Flagge Sea-Watch fährt, sich der italienischen Position angeschlossen hatte, verhielten sich deutsche Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Außenminister Heiko Maas betont undiplomatisch. Auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron forderte ein Ende geschlossener Häfen.

„Wenn der Elysée-Palast von offenen Häfen spricht, leiten wir die Boote nach Marseilles und Korsika um“, konterte Salvini. An seine Kollegin Elisabetta Trenta vom Verteidigungsministerium appellierte er, „alle Grenzen zu verteidigen“. Und weiter: „Das ist eine Attacke gegen die italienische Regierung, weil sie sehen, daß die Italiener immer mehr auf unserer Seite stehen.“

Mit „sie“ sind die NGOs gemeint, die angesichts der Freilassung Racketes auf einen Präzedenzfall spekulieren. Am Samstag hatte – ähnlich der Sea-Watch – die „Alex“ mit 41 Migranten trotz Einfahrtverbot in Lampedusa angelegt. Die italienische Organisation „Mediterranea“ warf Salvini „unnötige Grausamkeit“ vor. Der Vizepremier kündigte daraufhin an, die Regierung werde in Zukunft die Strafen für Schiffe, die trotz Verbots anlanden würden, auf bis zu eine Million Euro erhöhen. Die „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye dagegen knickte gegenüber Salvinis Strafandrohung ein, nachdem Beamte der GdF an Bord gegangen waren, um ein Dekret des Innenministeriums vorbeizubringen: „Der Hafen ist zu.“ Daraufhin segelte die Alan Kurdi nach Malta. Der Inselstaat ließ die 65 Migranten an Land – unter der Auflage, daß die Hälfte von ihnen auf andere EU-Länder verteilt wird.

Ebenfalls am vergangenen Samstag forderte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) seinen italienischen Amtskollegen dazu auf, dessen Haltung in der Migrationsfrage zu überdenken und die Häfen zu öffnen, wegen der „gemeinsamen europäischen Verantwortung und unseren gemeinsamen christlichen Werten“.

Italien nimmt kaum noch Bootsmigranten auf

Salvini hatte zuvor einen Brief an den deutschen Innenminister geschrieben, in dem er deutlich machte, daß Italien nicht der „einzige Hotspot in Europa“ sein wolle. Deutschland sprach sich jedoch gegen den italienischen Vorstoß aus, daß der jeweilige Flaggenstaat eines Schiffes für die Migranten verantwortlich sei.

Einigkeit haben bisher alle Seiten nur darin gefunden, wenn es um das Schicksal der Migranten geht: Diese sollen wie bei der Sea-Watch 3 auf verschiedene EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden. Immer häufiger setzt sich Italien jedoch mit der Haltung durch, keinen einzigen Bootsflüchtling aufzunehmen. Erst kürzlich stellte der Corriere della Sera fest, daß man noch vor wenigen Monaten vom Verbleib Hunderter oder gar Tausender illegaler Einwanderer gesprochen hätte, deren Zukunft ungewiß gewesen sei. Die Zahl sei auf wenige Dutzend pro Schiff zurückgegangen.

Innenpolitische Erfolge, an denen Sea-Watch nichts ändern kann – die aber zum zweischneidigen Schwert geraten können, wenn der „Capitano“ Salvini den Fall Rackete zum Anlaß nimmt, härtere Gesetze durchzusetzen. Die Mehrheit der Italiener stünde wohl hinter ihm.