© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Von Spitzenkandidaten und Trümmerfrauen
Kommissionspräsidentin: Die nationalen Regierungen einigen sich auf Ursula von der Leyen / Das Parlament muß abnicken
Martina Meckelein

Fünf Jahre würde die Amtszeit Ursula von der Leyens (CDU) als EU-Kommissionspräsidentin in Brüssel währen, würde sie von den 751 Abgeordneten des EU-Parlaments bestätigt. Das wird, wenn nichts dazwischenkommt, am 16. Juli der Fall sein. In Anbetracht ihrer eher als mäßig zu bezeichnenden Zukunftsaussichten als glücklos agierende Verteidigungsministerin in Berlin eine für sie – und auch die CDU – positive Entwicklung. Doch gegen die Entscheidung der 28 EU-Regierungschefs, wobei sich Deutschland der Stimme enthielt, regt sich Widerstand. Die EU-Parlamentarier fühlen sich von dieser Hinterzimmerpolitik vor den Kopf gestoßen.

Gewohnte Mehrheiten gibt es nicht mehr

„Meine erste Reaktion war Fassungslosigkeit“, erklärt Daniel Caspary (CDU) in der TV-Sendung „Hart aber fair“ am vergangenen Montag abend. Der Diplom-Volkswirt ist seit einem Jahr Chef der deutschen CDU/CSU-Gruppe innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament. Ohne die Stimmen der EVP habe kein Kandidat die Chance auf eine Mehrheit, sagt er.

Das stimmt: Die EVP ist mit 182 Sitzen größte Fraktion, allerdings haben die Christdemokraten im Vergleich zu 2014 34 Sitze verloren. Die Sozialdemokraten (S&D) haben 154 Sitze (minus 30), die Liberalen/Zentristen (RE) 108 (plus 39), die Grünen/EFA 75 (plus 23), die Nationalkonservativen (ID, ihr gehört die AfD an) 73 (plus 37) , die Konservativen/EU-Skeptiker (EKR) 62 (minus 13), die Kommunisten/Linke (GUE/NGL) 41 (minus 11), die Fraktionslosen 56 (plus 36).

Ursula von der Leyen benötigt 376 Stimmen. Noch 2014 wäre ihre Wahl eine sichere Bank gewesen. Doch jetzt haben sich die Gewichtungen im Parlament verändert. Christdemokraten und Sozialdemokraten verloren 64 Sitze. Darüber hinaus fühlen sich die Sozialisten und Grünen übergangen. Statt der angekündigten Kandidaten, kungeln, so ihre Sichtweise, die Regierungschefs in Hinterzimmergesprächen einen völlig neuen Spitzenkandidaten aus, einen der zuvor gar nicht im Gespräch war.

Wobei dies nach dem Lissabon-Vertrag von 2007 nicht nötig ist. Das Wahlverfahren sieht vor, daß der Europäische Rat, also die Staatschefs, dem Europäischen Parlament einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vorschlägt. Der Rat hat dabei das EU-Wahlergebnis zu berücksichtigen. Eine Spitzenkandidatur steht  schlicht nicht im Vertrag.

Innerhalb einer Woche muß von der Leyen die Parlamentarier nicht nur davon überzeugen, daß sie unabhängig vom sie nominierenden Rat agieren kann, sie muß ihnen auch bei der Wahrung des Gesichts helfen. Wobei sich die Frage stellt, inwiefern von der Leyen innerhalb von nur zwei Wochen, gerechnet von der Nominierung bis zur Wahl, ein Programm für Europa auf die Beine stellen will.

Ist ihr die Unterstützung der meisten EVP-Parteisoldaten sicher, wohl auch die der Liberalen und Zentristen, macht das 290 Stimmen aus. Es fehlen dann noch 86 Stimmen. Die SPD will bisher von der Leyen nicht wählen, wurde doch deren Kandidat, Frans Timmermans, unter anderem von der EVP verhindert. Dabei sollten mit seiner Wahl die in der Wählergunst sinkenden Sozialisten auch in den Nationalstaaten, wieder an Einfluß erlangen. Wobei von der Leyen mit ihrer Unterstützung der Migrationspolitik allemal auf Sozialisten-Linie liegt.

Doch so sehr von der Leyen in den Vorzimmern der Mächtigen schmeichelt und was auch immer sie den Grünen und den Sozialisten verspricht – Osteuropäer werden ein Wörtchen mitreden. Die Visegrad-Gruppe mit den vier Staatschefs Andrej Babis (Tschechien), Mateusz Morawiecki (Polen), Peter Pellegrini (Slowakei) und Viktor Orbán (Ungarn) – sie haben erst Manfred Weber und dann Frans Timmermans blockiert. Orbán hatte Timmermans gar als Jünger des Milliardärs Georges Soros bezeichnet. Er toleriere keine Haltung, die von seiner liberal-demokratischen abweiche.

Polen schätzt von der  Leyens Rußland-Aversion

Von der Leyen wird zwar von Polen wegen ihrer Unterstützung der militärischen Kooperation innerhalb Europas als Gegengewicht zu Rußland gelobt, Ungarn ist hingegen rußlandfreundlicher. Aber beide eint ihre Position zur Migration. Mit dem Abtritt des Polen Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, wird Osteuropa darüber hinaus keinen Vertreter mehr in EU-Spitzenämtern haben. Möglich, daß die Visegrad-Staaten eine Aufgabe ihrer EU-Mitgliedschaft dann darin sehen, Abstimmungen zu blockieren, die Einstimmigkeit erfordern.

An den sich vertiefenden Gräben in Europa werden weder von der Leyen noch Christine Lagarde, die amtierende IWF-Chefin, die Mario Draghi in der Europäischen Zentralbank (EZB) ablösen soll, letztlich schuldig sein. Insofern mag die Politologin Gabriele Abels nicht unrecht haben, wenn sie die Kandidatinnen auf heute.de als „Trümmerfrauen-Nominierung“ bezeichnet. „Es spricht nicht für die EU, daß sie eine innenpolitisch so angeschlagene Ministerin in dieses wichtige Amt hievt.“