© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Im Kern der Natur
Atomausstieg in der Schweiz: Wie die Eidgenossen mit ihrer Energiesouveränität pokern
Ralph Meese

Der Schweizer Nationalrat Roger Nordmann (SP) hat einen Traum. Das Land müsse seine  Fähigkeit, Solarstrom zu produzieren, um das 25fache auf 50 Gigawatt steigern. Um Atomstrom zu ersetzen und den gesamten Verkehr zu elektrifizieren, will der Politiker das Alpenland mit Solaranlagen zubauen: Auf allen Gebäuden, auf Lärmschutzwänden und entlang der Straßen sollen diese installiert werden. Fläche sei genug vorhanden. Das Berner Institut Meteotest hatte die für die Nutzung von Sonnenenergie geeigneten Gelände auf 251 Quadratkilometer geschätzt, knapp ein halbes Prozent der ganzen Schweiz.

Nordmann will derart viele Anlagen installieren, daß im Herbst und Frühling kein Stromimport mehr nötig ist. Im Sommer soll die Produktion gedrosselt werden und im Winter der fehlende Strom aus ausgebauten Stauseen und Batteriespeichern kommen. Im Ausnahmefall könnten Erdgas-Kraftwerke einspringen. Dabei entging die Schweiz erst Ende Mai wieder knapp einem Blackout, wegen der stark schwankenden Stromproduktion der Erneuerbaren – allerdings in Deutschland. Die Schweiz hatte das große Nachbarland weitaus stärker versorgen müssen als geplant, meldete der Netzbetreiber Swissgrid. Sonne und Wind hatten die Deutschen im Stich gelassen.

Experten winken ab. Die für die Versorgungssicherheit notwendigen riesigen Batterien würden extrem viel Lithium benötigen, was wiederum die Ökobilanz trübe. Der Einsatz des überschüssigen Sommerstroms zu Erzeugung von speicherbarem Gas oder flüssigen Brennstoffen mit Wiederverstromung im Winter sei zwar eine Option, aber teuer und mit großen Energieverlusten verbunden. Zudem müßten Pumpspeicherkraftwerke ausgebaut werden, das Potential sei aber beschränkt. Auch würden Gaskraftwerke die Klimaschutzziele konterkarieren. Weit hinter den Erwartungen sind überdies der Ausbau der Windenergie und die Geothermie geblieben. Bei allen Sparbemühungen der Eidgenossen steigt der Stromverbrauch an.

Unterversorgung von 30 Prozent droht im Winter 

Fest steht, die Schweiz will den Atomausstieg. Aber was wird, wenn die Energieversorgung nicht mehr reibungslos funktioniert? „Die Schweiz steuert auf einen Strommangel zu – und sie tut zuwenig, um ihn abzuwenden“, hieß es kürzlich in einem „Weckruf“ in der Neuen Zürcher Zeitung. In Risikoanalysen wird vor einer Unterversorgung von 30 Prozent im Winter gewarnt, weil nicht genug Strom produziert, importiert und bereitgestellt werden kann. Dann käme es drei Monate lang zu großflächigen Abschaltungen, Stromrationierungen und vereinzelten lokalen Blackouts.

Seit die Schweiz im Mai 2017 per Volksabstimmung die Energiestrategie 2050 beschlossen hat, die den Ausstieg aus der Kernkraft vorsieht, spielen Politiker und Experten verzweifelt Modelle durch, wie angesichts einer schon existierenden Stromlücke und perspektivisch steigenden Verbrauchs die Versorgungssicherheit mit erneuerbaren Energien gewährleistet werden kann.

Im Strombereich werde die Energiestrategie 2050 schon wegen der fehlenden Plan- und Steuerbarkeit der Stromproduktion mit erneuerbaren Energieträgern und der physikalischen Grenze bei der Speicherung nicht umsetzbar sein, schreiben Silvio Borner und Bernd Schips im Heft „Versorgungssicherheit – vom politischen Kurzschluß zum Blackout“. Ein „rasches Umdenken ist unsere Chance, weil wir auf dem Weg in die Sackgasse noch nicht so weit wie Deutschland vorgedrungen sind“, das sich vom Atom- und Kohlestrom verabschiedet hat, schreiben die Wissenschaftler.

AKWs laufen laut Gesetz, solange sie sicher sind

Mit dem sukzessiven Wegfall der Kernkraftwerke muß die Schweiz für eine Übergangszeit von 15 bis 20 Jahren auf Gaskombikraftwerke setzen. Damit können aber die vereinbarten Klimaziele nicht gehalten werden. Benoît Revaz, Direktor des Schweizer Bundesamtes für Energie, plädiert nicht nur deswegen gegen deren Bau, sondern auch mit Blick auf die perspektivische Konkurrenzsituation zu den Wasserkraftwerken. Überdies seien im Gesetz keine Abschaltdaten für die AKWs definiert, so Revaz in der NZZ: „Sie laufen, solange sie sicher sind.“ Alternativ müsse Strom aus dem Ausland importiert werden. Obwohl die Schweiz noch immer kein Energierabkommen mit der EU unterzeichnet hat, ist Revaz sicher, daß die Versorgungssicherheit seines Landes „im Verbund mit den europäischen Staaten“ gewährleistet ist.

Bisher bezieht die Schweiz Strom vor allem aus französischen Kernkraftwerken sowie deutschen und osteuropäischen Kohlekraftwerken. „Wenn Deutschland mittel- oder längerfristig zuwenig Strom hat, wird es diesen selbst brauchen und nicht in die Schweiz liefern“, warnt Ruedi Zurbrügg, Geschäftsführer des Verbandes Aargauischer Stromversorger (VAS), dem rund 100 lokale und regionale Stromversorger angehören.

Die NZZ erinnert an den Winter 2015/16, als die Reaktoren des AKW Beznau stillstanden, die Laufkraftwerke an Flüssen wegen des trockenen Sommers weniger Strom lieferten, die Stauseen sich leerten.

Seit 1960 produzierte die Schweiz günstig und sauber

Für eine Ertüchtigung der vorhandenen Atomkraftwerke plädiert Walter Nef, von 1997 bis 2007 Leiter des AKW Beznau. Fünf moderne Gaskombi-Kraftwerke würden so viel zusätzliches CO2 produzieren wie alle Autos in der Schweiz zusammen, so Nef auf der Jahresversammlung des Nuklearforums Schweiz. Ab den 1960er Jahren habe man mit der Kombination von Wasser- und Kernkraft eine günstige, ausreichende, sichere und vom Ausland möglichst unabhängige Stromversorgung geschaffen und dabei Wasser, Luft und Landschaft geschützt.

Es werde nicht gelingen, die wegfallenden AKWs rechtzeitig durch Strom aus erneuerbaren Quellen zu ersetzen, ist sich Eduard Kiener, 1977 bis 2001 Direktor des Bundesamts für Energie, gewiß: Weder kann genügend Elektrizität erzeugt, noch die erforderliche zusätzliche Speicherkapazität bereitgestellt werden. Der Ausstieg aus der Kernenergie führe zu einer Erhöhung des CO2-Ausstoßes, so Kiener im Magazin: „Der Schutz des Klimas verlangt daher, die bestehenden Kernkraftwerke so lange weiterzubetreiben, wie sie sicher sind, und den Bau neuer fortgeschrittener Anlagen. Eine verantwortungsvolle Energiepolitik, wie sie von den Klimademonstranten gefordert wird, müsse auf technischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Realitäten aufbauen. Wer es mit dem Klimaschutz ernst meine, müsse den Ausstieg aus dem Kernenergieausstieg fordern.





Das Schweizer Stromnetz in Europa

Die Schweiz will bis 2050 komplett auf erneuerbare Energien umsteigen. Das heißt für die Eidgenossen vor allem, die Atomkraft abzuschalten, die 2017 noch 32 Prozent des Stroms erzeugte. Das könnte auch für Deutschland zum Problem werden. Denn Strom fließt europaweit durch das gleiche Netz bei 50 Hertz. Diese Frequenz steigt oder fällt mit der Produktion beziehungsweise der Abnahme. Ende Mai wurden laut Swissgrid „einzelne Netzelemente erheblich überlastet“. Regionale Abschaltungen als letzte Maßnahme vor einem größeren Blackout konnten damit gerade noch verhindert werden. Deutschland fragte dank einer größeren Windflaute weitaus mehr Strom nach, als die europäischen Netzprognosen voraussagten. Die Schweiz schickte deshalb über ein Drittel ihrer gesamten Stromproduktion (4,5 Gigawatt), auch aus Italien floß ein Teil der dortigen Produktion zur Versorgung  nach Norden. Die Netze kamen so an ihre obere Belastungsgrenze. Würden weiter die Kern- durch Windkraftwerke ersetzt, könnte das bei entsprechender Großwetterlage die Blackout-Risiken weiter verschärfen. (mp)