© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Paris zieht die Notbremse
Handelspolitik: Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten wirbelt beiderseits des Atlantik die Politik auf
Jörg Sobolewski

Die Freude war in Brüssel, Rio de Janeiro und Berlin riesig, als die Handelskommissarin der EU, Cecilia Malmström,   die Einigung über die Rahmenbedingungen eines Freihandelsabkommens mit den vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay in Brüssel vorstellte.  

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker assistierte und sprach von einem „historischen Augenblick“.  „In einer Zeit internationaler Handelsspannungen tun wir heute mit unseren Partnern aus dem Mercosur deutlich kund, daß wir für einen auf Regeln beruhenden Handel stehen“, betonte der Luxemburger mit Blick auf  US-Präsident Donald Trump.

Seit rund zwanzig Jahren schon wird zwischen dem größten (Europäische Union) und dem viertgrößten (Mercosur) Binnenmarkt der Welt über ein solches Abkommen verhandelt. Besonders die Vertreter der europäischen Industrie unterstützen einen weitreichenden Abbau der Handelshemmnisse auf südamerikanischer Seite.

Beim BDI in Berlin verspricht man sich viel von einem exklusiven Zugang der europäischen Industrie zu dem riesigen Wirtschaftsraum am Ende der Welt. Präsident Dieter Kempf spricht sogar von einer „strategischen Dimension“ und einem Markt der „exklusiv geöffnet“ werde. 

Allein Frankreichs Präsident Emmanuel  Macron schob der Aufregung einen Riegel vor. Ohne Sicherheitsgarantien für die französische Zuckerrübe und den französischen Rinderzüchter könne es „aktuell keine Zustimmung geben“, erklärte Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye. Umweltminister François de Rugy packte noch eine Bedingung drauf. Das Abkommen könne nur ratifiziert werden, wenn Brasilien die Abholzung im Amazonasgebiet stoppe, so der linksliberale Ökologe.

Mit seiner Ablehnung steht Macron nicht alleine da, tatsächlich dürfte das geplante Abkommen in Fachkreisen ebenso umstritten sein wie weiland die Verhandlungen zu TTIP. In der Öffentlichkeit erfreut es sich jedoch wesentlich geringerer Bekanntheit. Dies zu Unrecht, denn schließlich handelt es sich bei dem „gemeinsamen Markt des Südens“ um einen riesigen Markt mit 260 Millionen Einwohnern – der in der Vergangenheit häufig gegen Importe abgeschottet war. Zu wichtig schien vielen Politikern zwischen Brasilia und Buenos Aires der Aufbau einer eigenen Industrie. 

Heute soll diese Prämisse nicht mehr gelten, Argentiniens Präsident Mauricio Macri bezeichnete das geplante Abkommen sogar als ein „Mittel, die Armut in unserem Land zu bekämpfen“. 

Für den wirtschaftsliberalen Macri ist Freihandel eine Flucht nach vorn aus der Rezessionsspirale, in der sein Land seit Jahren gefangen ist. Der Export argentinischen Rindfleischs soll richten, was jahrelange Mißwirtschaft im Land angerichtet hat. Ein landesweiter Stromausfall vor zwei Wochen hat den ohnehin umstrittenen Präsidenten viel Sympathie unter seinen stolzen Landsleuten gekostet.

Der Optimismus des Präsidenten verfängt jedoch nicht bei jedem. In den Arbeitervierteln von Buenos Aires wird die Nachricht vom Verhandlungsdurchbruch in Brüssel mit Skepsis aufgenommen. Auf das Freihandelsabkommen angesprochen schüttelt der Facharbeiter Diego Lang müde den Kopf: „Wir können doch nicht alle vom Sojaanbau leben.“ 

Der stämmige Argentinier fürchtet nicht nur um seine Stelle in einer kleinen Spielzeugfabrik im Umland der Hauptstadt, es geht ihm um das große Ganze: „Wir exportieren billig Fleisch und Soja – und dafür werden wir mit Industrieprodukten überschwemmt. Wir können doch mit den Europäern gar nicht mithalten.“

Seine Sorgen werden auf der anderen Seite des Atlantiks gespiegelt, hierzulande warnen beide Interessenverbände der Landwirtschaft vor den Quotenregelungen des Abkommens. Es geht um Zehntausende Tonnen Rindfleisch, Zucker und andere Agrarprodukte die im Tausch gegen einen vollständigen Abbau der Einfuhrzölle auf Industriegüter in europäischen Supermärkten landen sollen. 

Europas Bauern fürchten Benachteiligung  

Der Deutsche Bauernverband fürchtet vor allem einen ungleichen Wettbewerb. Weniger um die Effizienz der eigenen Betriebe mache man sich Sorgen, man sehe vielmehr den Wettbewerb mit Betrieben aus der neuen Welt, die sich um wesentlich weniger Arbeits- und Umweltschutzvorschriften kümmern müßten, äußerst kritisch. Bauernpräsident Joachim Rukwied warnt gar vor dem „Import von Menschenrechtsverletzungen“. 

Eine Befürchtung, die Menschenrechtler in Argentinien, Paraguay und Brasilien durchaus teilen. Seit Jahren boomt der Anbau von Futtersoja an den Ufern des Rio Paraguay. Weil große Teile der noch nicht bebauten Flächen im Besitz indigener Stämme sind, werden diese von Großgrundbesitzern mit Gewalt vertrieben. Von einem „handfesten Genozid“ spricht etwa die Indigenen-Vereinigung „Orcopo“ und fürchtet, daß „durch die neuen Exportmöglichkeiten“ der Druck auf die indigene Bevölkerung weiter steigen wird. 

Tatsächlich ist der Export von Futtersoja in den vergangenen Jahren die wichtigste Devisenquelle Argentiniens gewesen. Ohne das eiweißreiche Futter, das seinen Weg in die ganze Welt findet, wäre der Staat am südlichen Ende des Kontinents kaum in der Lage, seinen hohen Lebensstandard zu halten. Gern würde Argentinien nun auch den Export des eigenen Rindfleisches steigern, die bisherigen Exportkontingente in die Europäische Union betrugen nur einen Bruchteil der jetzt im Raum stehenden 99.000 Tonnen. 

Auch der große Nachbar Brasilien hofft auf einen Exportboom, vor allem beim Zucker, für den künftig ein Importkontingent von 180.000 Tonnen verfügbar sein soll. Das ist vor dem Hintergrund der brasilianischen Gesamtproduktion von 24,8 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr zwar ein eher kleiner Teil, treibt den deutschen Zuckerproduzenten dennoch die Sorgesfalten ins Gesicht. Schließlich wird in Brasilien auf riesigen Flächen mit Zuckerrohr kostengünstig das süße Gold angebaut, während in Deutschland und Frankreich nahezu ausschließlich die schwieriger zu verarbeitende Zuckerrübe auf dem Acker wächst.

Die Mercosurstaaten mögen auf dem internationalen politischen Parkett häufig eher zur zweiten Reihe gehören – agrarpolitisch sind sie Großmächte. Selbst das kleine Paraguay baut allein auf 3,2 Millionen Hektar Soja an, das entspricht etwa zehn Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche Deutschlands, bei einer Einwohnerzahl von lediglich  sechs Millionen Einwohnern. Die Großbauern bleiben dabei weitgehend steuerfrei. Einkommenssteuern gibt es erst seit 2012, Steuerhinterziehung wird jedoch nicht verfolgt. 

Die EU-Kommission müht sich nun um eine Beruhigung der bäuerlichen Gemüter, vor allem der Export von qualitativ hochwertigen Produkten wie Käse, Wein und Pralinen sei in Zukunft deutlich einfacher, und auch geographische Angaben wie der berühmte „Tiroler Speck“, das „Münchener Bier“ oder „Parmaschinken“ seien nun ebenfalls im Mercosur-Raum geschützt. Auch der Export von Milchprodukten und verarbeitetem Schweinefleisch sehe guten Zeiten mit dem Abkommen entgegen. Vor allem, so die Kommission weiter, werden nach Ratifizierung des Abkommens die Mehrheit der Zölle auf EU-Ausfuhren in den Mercosur in Höhe von vier Milliarden Euro pro Jahr entfallen. 

Beim Deutschen Bauernverband stoßen diese Versprechungen nicht auf Gegenliebe; dort verdächtigt man die Entscheidungsträger, „die Landwirtschaft zugunsten der Autoindustrie“ geopfert haben.

 Die vermittelt auch tatsächlich den Eindruck großer Freude, der Verband der Automobilindustrie sieht „große Chancen“ für einen zügigen Ausbau des Südamerikageschäfts, schließlich fällt bisher ein Zoll in Höhe von 35 Prozent auf die Einfuhr von Autos nach Brasilien an. Dabei wächst dort seit Jahren der Automarkt. 

Trotz jüngster Korruptionsskandale nimmt die Mittelschicht in dem Riesenland kontinuierlich zu. Entsprechend fordert auch der Bundesverband der Deutschen Industrie ausdrücklich alle Verantwortlichen auf, die Verhandlungen schnell zum Abschluß zu bringen, die Chance sich diesen riesigen Markt als erster zu öffnen, dürfe man sich nicht entgehen lassen. Auf Umwelt- und Menschenrechtsprobleme könne man am besten eingehen, wenn man mit den Partnern vor Ort „wirtschaftlich und politisch eng zusammenarbeite“, so der Präsident des BDI, Dieter Kempf.  

Linke und Rechte in der Kritik vereint 

Bei der linken, globalisierungskritischen NGO „Attac“, die sich in der Vergangenheit bereits harsch über die Freihandelspläne geäußert hat, ist man hingegen alarmiert und sieht in der Aussicht auf den Vertrag einen „Frontalangriff auf Menschenrechte und Umweltschutz“. 

Bisher sind die Verhandlungsparteien lediglich über Rahmenbedingungen einig geworden. In den kommenden Monaten und Jahren müssen nun noch in langwieriger Arbeit die Details ausgehandelt werden. Dann erst geht das gesamte Vertragswerk an das EU-Parlament und die einzelnen Mitgliedsstaaten, die jeweils noch zustimmen müssen.

 Neben dem französischen Präsidenten hat besonders die globalisierungskritische Linke hier bereits harten Widerstand angekündigt. Aber auch aus FPÖ und AfD kamen in der Vergangenheit kritische Töne zum Freihandelsabkommen, und auch in den Mercosur-Staaten selber ist politisch nicht alles eitel Sonnenschein. 

Trotz seiner öffentlich geäußerten Freude über den Fortgang der Verhandlungen hat sich Brasiliens konservativer Präsident Jair Bolsonaro in der Vergangenheit nicht als Mercosur-Freund profiliert. Als erste Amtshandlung ließ er den potugisischen Schriftzug „Mercosul“ auf brasilianischen Pässen entfernen und verkündete öffentlich, Mercosur habe für ihn „keine Priorität“. 

Sein Gesinnungswandel dürfte dem Druck des Superministers Paulo Guedes geschuldet sein, der als Freund offener Märkte gilt. Der hatte seinem Herrn und Meister eine Verdreifachung des Bruttoinlandsprodukts binnen 15 Jahren versprochen, wenn die große Freihandelszone Mercosur-EU käme. 

Nach der Einigung müssen sich beide Seiten nun auf die Festlegung der letzten technischen Details konzentrieren und eine rechtliche Überarbeitung des vereinbarten Textes vornehmen, um die endgültige Fassung vorzulegen. Die Kommission wird das Abkommen dann den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament zur Genehmigung vorlegen.





„Wertebasierte Handelspolitik“ der EU

Die EU verfolgt nach eigenen Angaben eine „wertebasierte Handelspolitik“. Diese habe das Ziel, Wirtschaftswachstum und Investitionssicherheit mit sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechtsstandards und Normen im Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz zu verbinden, heißt es aus Brüssel. „Oberstes Ziel“ dieser „regelbasierten und offenen Handels-agenda“ sei der Multilateralismus und nicht der Protektionismus. Seit US-Präsident Donald Trump multilaterale Handelsgespräche aufgekündigt habe, hätten die Vereinigten Staaten eine Lücke im internationalen Handelssystem hinterlassen, die viele Staaten und Regionen dazu bewogen habe, sich der EU zuzuwenden, um mit ihr Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund seien bereits im Dezember 2017 die Verhandlungen über ein Abkommen mit Japan abgeschlossen worden, so die Kommission. Das Japan-Abkommen trat im Februar 2019 in Kraft. Am 30. Juni unterzeichneten die EU und Vietnam ein Handels- und Investitionsschutzabkommen. Dies, so Brüssel, sei das ehrgeizigste Abkommen, das die EU jemals mit einem Entwicklungsland geschlossen habe. Die Vereinbarungen sehen den Abbau von 99 Prozent der Zölle in den kommenden Jahren vor. Neben den Gesprächen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsverbund Mercosur verhandelt die EU-Kommission unter anderem mit Neuseeland, Australien und Indonesien.