© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Pankraz,
die Daten und die Vielfalt des Wissens

Natur- und Geisteswissenschaften müssen endlich zusammengelegt werden! So tönt es mittlerweile immer lauter auf offiziellen und halboffiziellen Kanälen. Es soll künftig nur noch eine einzige, nämlich die „Digitalwissenschaft“ geben. Neulich fand das  einflußreiche Wissenschaftsorgan Transform Magazin (im Untertitel Magazin für das Gute Leben) alleraggressivste Töne gegen die bisherige „Wissenschaftsspaltung“. Ungeheure Fördersummen des Staates und anderer Investoren würden dadurch fehlgeleitet, mit anderen Worten: schlicht verplempert. Es sei ein Graus. 

Die neue, einheitliche Digitalwissenschaft soll „Dyadik“ im Stile von Leibniz sein, ein binäres Zahlensystem, in dem es nur zwei Charaktere oder Ziffern gibt, die Eins und die Null, und mit dessen Hilfe man einen beliebigen Sachverhalt „wissenschaftlich erschließt“, indem man ihn entweder der Eins oder der Null zuordnet. Wissenschaft unter diesem Aspekt wird also von vornherein mathematisiert. Sie hat letztlich nur noch zwei Aufgaben: erstens das Datensammeln, die Herstellung von „Big Data“, zweitens Zuordnen. Wahr ist, was sich unter Big Data einordnen läßt.

Der Notwendigkeit des Datensammelns werden alle Wissenschaftler zustimmen, sowohl Biologen (Naturwissenschaftler) als auch Germanisten (Geisteswissenschaftler). Doch beim Zuordnungsprinzip melden zumindest die Geisteswissenschaftler spontan Zweifel an. Wissenschaft, sagen sie, ist mehr als bloße Mathematik, sie läßt sich nicht einfach abzählen und zu großen Gleichungen zusammenstellen. Denn die Welt selbst ist mehr als Mathematik. Und es stimmt auch nicht, daß immer die große Zahl die Wahrheit birgt, ganz abgesehen davon, was Wahrheit ist und ob es sie überhaupt gibt.


Gar nicht selten – so weiter die Einwände der Geisteswissenschafler  (zu denen ja auch die Philosophen, die Theologen oder die Sprachforscher gehören) – erweist sich, daß nicht die große Zahl (die „Eins“), sondern die kleine (die „Null“) historisch recht behält. Die Welt ist eben  in Raum, Zeit und vertretbaren Denkmöglichkeiten unendlich, das hatten schon die „letzten Universalgenies“ Leonardo da Vinci und auch Leibniz einsehen müssen. Die ersten Enzyklopädisten und Lexikalisten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert haben daraus  sehr interessante Schlußfolgerungen gezogen.

Sie hatten sich dazu entschlossen, die Phänomene nicht in einen einzigen Kontext hineinzuzwingen, sondern ihnen im Lexikon jeweils einzelne Spezialeinträge zu widmen, mit dem ausdrücklichen Bedeuten, daß es sich dabei um vorläufige, ad infinitum fortzuschreibende Einträge handle, keine ewigen Wahrheiten. Und das betraf nicht nur den Inhalt des Mitgeteilten, sondern auch seine Form, die Sprache. Sowenig es eine Konsistenz der Sachverhalte selbst gibt, meinte damals der Vater der modernen Wissenschaft, Denis Diderot, sowenig gibt es eine Konsistenz der ihnen gewidmeten Sprache. 

Das gilt nicht nur für die Geisteswissenschaft, die sich mit Literatur und Kunst beschäftigt, sondern ganz besonders für die  „physische Weltbeschreibung“ (Alexander von Humboldt), also für die Naturwissenschaft. Eine absolute, vollkommen adäquate Sprache, also etwa die Sprache der Mathematik, gibt es nicht, es gibt nur Sprachspiele, die von Zeit und Raum abhängig sind. Der große Traum der idealistischen deutschen Philosophie um 1800, inbesondere Schellings, daß die Poesie in der Lage wäre, die „absolute“, auch und gerade für die Wissenschaft ein für allemal gültige Sprache zu finden, blieb ein Traum.

Humboldt, ganz ein Bruder des jungen Schelling, hat diesen Traum ebenfalls geträumt, und so schrieb er eine, wie er hoffte, voll wissenschaftliche und überall handhabbare „Poesie“ der Weltbeschreibung , den „Kosmos“ (Alexander von Humboldt: „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, mit 90 Tafeln im Lokalkolorit. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2004, 1.019 Seiten, 99 Euro). Er ist damit vollkommen gescheitert, gescheitert an den  eigenen Ambitionen. Die Bände stehen ungenutzt und verstaubt in irgendwelchen musealen Archiven, kaum ein Wissenschaftler weiß noch, daß es sie überhaupt gibt, auch kein Geisteswissenschaftler. Die meisten der so selbstbewußten Digital- und Gesamtwissenschaftler unserer Tage kennen nicht einmal mehr  den Namen Humboldts.


Ihre ausschließlich rechnende, auf angeblich real existierende „Teilchen“ reduzierende Wissenschaftssprache der positivistischen Moderne hat Humboldts Wissenschaftspoesie resolut außer Kurs gesetzt, und heute, da die positivistische Wissenschaftssprache ihrerseits außer Kurs zu geraten beginnt, sich vielerorts bereits in banalen Jargon verwandelt hat, der nichts mehr bedeutet, ist es offenbar nicht Humboldt, der Wegweisung bieten könnte.

Seine „Kosmos“-Sprache zeigt dieses Desaster nicht einmal an. Sie ist allzu sehr der bloß sinnlichen, „physischen“ Wahrnehmung verhaftet; die heute so aufregende Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit spürt sie gar nicht. Bei der Beschreibung beispielsweise aktuellster Weltraumerkenntnisse, „Schwarzes Loch“, „Gekrümmter Raum“ usw., wäre sie ganz hilflos, könnte nicht einmal den digitalistischen, wissenschaftlich vollkommen hilflosen Stilübungen eines Feynman oder Wheeler das Wasser reichen. 

Weder mit „Sprachpoesie“ à la Humboldt noch mathematischer Logik aus der gegenwärtigen Digitalwelt ist der Wissenschaftssprache aufzuhelfen, geschweige denn daß man damit eine neue „Gesamtwissenschaft“ zimmern könnte. Hans Blumenberg hatte recht: Auch Wissenschaftler sind Menschen, gestellt in eine konkrete Sprachwelt, die ihnen primäre Orientierung und interessante Lösungsvorschläge erschließt. Sie brauchen keine „Gesamtwissenschaft“, sondern Metaphern für ihre momentanen Forschungsgegenstände. Bilder „für etwas“, die ihnen genau vorm Auge stehen.

Und natürlich brauchen sie finanzielle Sicherung. Alle können Gewinn davon haben. Fern-Ideologen sollten sich da tunlichst heraushalten.