© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Pädagogik muß den Nachwuchs einbetten
Bildungsdebatte: „FAZ“-Mitherausgeber Jürgen Kaube kritisiert in seinem neuen Buch das derzeitige Schulwesen
Karlheinz Weißmann

Unter dem erfrischend frechen Titel „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ hat Jürgen Kaube, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – zuständig für die Kultur – ein Buch vorgelegt, dessen selbstgestellte Frage er beantwortet mit: Wahrscheinlich ja. Wie Kaube dazu kommt, erläutert er in vierzehn Kapiteln. Seiner Auffassung nach liegt das eigentliche Problem in der Überforderung der Schule, an die von allen Seiten Wünsche gerichtet werden, die sie nicht erfüllen kann. Die Erwartung an die Schule, eine junge Generation so zu informieren und auszurichten, daß sie eine egalitäre, gesunde, gewaltfreie, umweltbewußte, vorurteilslose und innovative Gesellschaft bildete, sobald sie erwachsen werde, sei grotesk.

Doch nicht nur das. Durch die Belastung von Lehrern wie Schülern mit allem möglichen komme das zu kurz, was eine Schule tatsächlich tun könne: das Vermitteln von Wissen, das Einüben bestimmter Tugenden (Disziplin, Konzentration, Askese) und die Anregung zu eigenständigem Denken. Aber diesen Zusammenhang zu begreifen, falle den Verantwortlichen wie der Öffentlichkeit schwer.

Kein Hinweis auf den Kulturkrieg der Linken 

Das liegt nach Kaube zum einen am Versagen der Pädagogik als Wissenschaft. Deren absurde Ideen könne man nur damit erklären, daß alle Pädagogen ihre eigene Schulzeit vergessen und nie vor einer realexistierenden Klasse gestanden hätten. Das liegt zum anderen an den seltsamen Neigungen der Kultusbürokratie, die sich darauf konzentriere, unsinnige Erwägungen über Organisationsfragen anzustellen (Beispiel: die „selbständige Schule“), Niveauverluste zu kaschieren (Beispiel: das „Zentralabitur“), jede brauchbare Vorstellung davon zu zerstören, was ein Lehrer ist (Beispiel: der „Lerncoach“), und immer davon absehe, worin die tatsächlichen Lern- und Verständnismöglichkeiten eines Kindes bestehen (Beispiel: „Kompetenzorientierung“).

Im Hinblick auf die Beschreibung dieses Ist-Zustandes wird man Kaube meistens zustimmen können. Seine Schilderungen sind oft locker hingetupft, aber treffend, unterfüttert mit Alltagserfahrungen oder jenen Untersuchungen, die tatsächlich darüber Aufschluß geben, was im Bildungswesen schiefläuft. Man findet Feststellungen von brutaler Richtigkeit („Das deutet darauf hin, daß die Schulen hierzulande Jugendliche mit Abschlüssen, in erster Linie Haupt- und Realschulabschlüssen, ausstatten, die faktisch Analphabeten sind“) und Verweise auf denkbare Alternativen, denen jeder folgen wird, der sich einen Rest gesunden Menschenverstands bewahrt hat. Etwa wenn Kaube die wohltuende Wirkung des Frontalunterrichts betont, die Bedeutung von Übung und Wiederholung hervorhebt und eine letzte Hoffnung in die „brauchbare Illegalität“ (Luhmann dixit) verantwortungsvoller Lehrer setzt, die sich nicht an die Curricula halten.

Selbstverständlich lehnt er das „Schreiben nach Gehör“ wie das „explorierende Lernen“ ab, die trickreiche „Motivation“ des Schülers wie die behauptete „Relevanz“ irgendwelcher Themen für das Leben der Heranwachsenden. Und zuletzt verwirft Kaube noch jede Illusion im Hinblick auf die natürliche Güte und Lernbereitschaft des Nachwuchses.

Trotzdem sind Vorbehalte angebracht. Da wäre etwa die Weigerung Kaubes, die Ursache für die Fehlentwicklung zu bestimmen, oder die Vorstellung, daß man ohne inhaltliche Festlegung dessen, was gelehrt werden soll, auskommen könne. Zwar gibt es bei ihm ein paar sarkastische Anmerkungen im Hinblick auf die Folgen „emanzipatorischer“ Erziehungslehre, wenn es sich um das Leistungsprinzip oder die Notwendigkeit der Leistungsmessung handelt. Aber nirgends gibt es eine Erklärung dafür, wie es im Bildungswesen überhaupt so weit hat kommen können, und nirgends einen Verweis auf den Kulturkrieg, den die Linke seit den 1960er Jahren gegen Schule und Hochschule und alles führt, was mit Erziehung zusammenhängt.

Unter den Waffen ihres Dauerangriffs ist eine der schärfsten die Behauptung, daß Inhalte unerheblich sind, jedenfalls die tradierten. Eine Auffassung, die Jürgen Kaube bedauerlicherweise teilt. Womit ihm ein entscheidender Gedanke der mehrfach zitierten Hannah Arendt entgangen ist: daß nämlich alle Pädagogik ihrem Wesen nach „konservativ“ ist und bleiben muß, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll.

Das heißt, es geht nicht einfach darum, daß die Schule außerstande ist, die „gesellschaftliche Zukunft zu sichern“. Das gehört gar nicht oder bestenfalls am Rande zu ihren Aufgaben. Entscheidend ist, daß sie den Heranwachsenden in den lebendigen Zusammenhang seiner Gemeinschaft einbettet, daß sie also etwas weitergibt, was sie nicht selbst schafft, von dessen Wert die Lehrenden überzeugt sind und die Lernenden überzeugt werden sollen.

Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 2019, gebunden, 336 Seiten, 22 Euro