© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

„An der Realität gescheitert“
Es gibt sie noch, die gute Nachricht – meint jedenfalls der Autor Klaus Rittstieg: In seinem Buch „Die stille Gegenrevolution“ attestiert er der Ideologie des Gender Mainstreaming, trotz ihrer Dominanz ihren Höhepunkt bereits überschritten zu haben
Moritz Schwarz

Herr Dr. Rittstieg, viele belasten die ständig schlechten Nachrichten in den Medien. Sie dagegen haben gute Neuigkeiten?

Klaus F. Rittstieg: Ja, ich denke, damit kann ich dienen.

Inwiefern? 

Rittstieg: In meinem Buch „Die stille Gegenrevolution“ beschreibe ich zunächst einmal die Tatsache, daß die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau viel weiter fortgeschritten ist, als es in der politischen Diskussion dargestellt wird. Den Daueralarmmodus kann man in dieser Frage also mal ganz entspannt herunterfahren. Und der Versuch, diesen Daueralarm unter der Überschrift „Gender Mainstreaming“ zur Durchsetzung radikalfeministischer Forderungen zu schüren, läuft zunehmend ins Leere.

Im Gegenteil, der Siegeszug des Gender Mainstreamings ist doch ungebrochen!

Rittstieg: Der Gedanke des Gender Mainstreaming ist in der Tat sehr dominant in den Medien, der Politik und ganz besonders an den Universitäten. Klar zu erkennen ist aber, daß von oben verordnete Gleichheit der Geschlechter von der Bevölkerung meist ignoriert wird. Es findet gar eine gegenläufige Bewegung statt, nach dem Motto: Es lebe der Unterschied! Das wird ja ganz besonders auch von den Vertretern des Gender Mainstreaming wahrgenommen und als „Backlash“, also Rückschlag, oder auch „Retraditionalisierung“ beklagt.

Ist Ihr Befund denn belegbar?

Rittstieg: Ja, es gibt eine Vielzahl Statistiken, die das bestätigen. Und im übrigen brauchen Sie sich nur in Ihrem sozialen Umfeld etwas umzusehen: Wie viele Familien mit Kindern kennen Sie etwa, die ganz ohne klassisch männliche oder weibliche Rollenverteilungen leben? Auch ist der berufliche Konkurrenzkampf heute härter als in den Sechziger Jahren, so daß die feministische Anklage, wir Männer gäben uns im Beruf den Wonnen der Selbstverwirklichung hin, während die Familienarbeit zu Hause etwas Furchtbares sei, deutlich an Wucht verloren hat. Die meisten meiner Bekannten mit einem Kleinkind haben sich auf die Baby-Pause sehr gefreut. Auch diesen Trend kann man selbstverständlich in Statistiken festmachen.

In Ihrem Buch führen Sie allerdings nur wenige solcher Statistiken auf. 

Rittstieg: Bei einem komplexen Thema wie Gender kann man mit Statistiken jeden Standpunkt untermauern: Der Gender-Pay-Gap beispielsweise läßt sich je nach Methodik mit über zwanzig Prozent oder aber auch mit zwei Prozent beziffern. Der Unterschied besteht hauptsächlich darin, auf welchen Grundannahmen die Statistik aufbaut. Ziel meines Buches ist, den Leser auf möglichst unterhaltsame Art zu befähigen, diese Grundannahmen zu verstehen und zu beurteilen. Hat man einmal ein tiefergehendes Verständnis, braucht man nicht mehr viele Statistiken, um sich ein Bild zu machen. Im übrigen verweisen Fußnoten auf Untersuchungen und Statistiken – die zentralen Aussagen sind also fundiert und überprüfbar. 

Sie sind Chemiker, nicht Biologe oder Soziologe – sind Sie überhaupt kompetent, über das Thema zu schreiben?

Rittstieg: Die Kernaussage der Gender-Wissenschaftler ist, daß Mann und Frau gleich auf die Welt kommen und somit alle kognitiven und emotionalen Unterschiede anerzogen seien. Das ist eine naturwissenschaftliche Aussage, da es ja um die Beschaffenheit des menschlichen Gehirnes geht, die genetisch festgelegt ist. Es ist wirklich erstaunlich: Gender-Forscher sind Geisteswissenschaftler, die entschieden eine naturwissenschaftliche Behauptung vertreten, die aber naturwissenschaftlich betrachtet nicht zutrifft. Also ja, ich bin davon überzeugt, wir Naturwissenschaftler sollten uns mehr in die Debatte einbringen. Und zum Umstand, daß ich Chemiker bin: Genetik beruht auf der Biochemie der Desoxiribonucleinsäure, kurz DNS. Die Gender-Thematik hat also mehr mit Chemie zu tun, als auf den ersten Blick gedacht.

Dennoch: Wie kommen Sie als aus Sicht der „Gender-Forschung“ Unberufener dazu, sich einzumischen?

Rittstieg: Es begann ursprünglich auf der Abschiedsfeier eines Kollegen. Ich erwähnte eher nebenbei, daß meine Frau momentan nicht berufstätig ist, sondern sich um unsere einjährige Tochter kümmert, worauf ich ziemlich rabiat zum rückständigen Macho erklärt wurde, der seine Frau in eine sklavenartige, minderwertige Rolle drängt und ihr damit die Chance auf Selbstverwirklichung nimmt. 

Ausweislich Ihres Buches hat Sie diese Einsicht aber nicht dauerhaft überzeugt.

Rittstieg: Auf dem Heimweg von der Feier habe ich mich wirklich gefragt, ob meine Frau und ich rückständig sind und der Befreiung der Frau in den Rücken fallen? Dann kam ich aber zu einem anderen Ergebnis: Wie ist es möglich, daß jene, die angeblich die Frauen befreien wollen, meiner Frau vorschreiben, wie sie zu leben hat? Bedeutet Freiheit nicht, so zu leben, wie man selber es für richtig erachtet? 

Und „wie ist das möglich“?

Rittstieg: Indem passierte, was bei fast jeder revolutionären Bewegung geschieht: Man schießt übers Ziel hinaus! Sind die sinnvollen Ziele erreicht, radikalisieren sich die Forderungen. Im Fall des Feminismus ist das offensichtlich: Nachdem erreicht wurde, daß Frauen berufstätig sein können, hieß es nun, sie müßten es. Sonst werden sie als rückständige Hausmütterchen abgestempelt. Die Frauenbewegung hat also gewissermaßen die Frauen von einer Form der Unfreiheit in eine neue Form der Unfreiheit geführt. Und aus der Forderung der Gleichberechtigung wurde die radikale Forderung nach Gleichheit. Das jedoch ist eine Forderung an unsere Biologie – die aber nun mal keine Forderungen entgegennimmt. Auch das ist eine typische Entwicklung revolutionärer Bewegungen: Sind sie erfolgreich, werden Kritiker eingeschüchtert und ideologischen Dogmen die Aura der Unfehlbarkeit verliehen – was früher oder später zu Realitätsverlust führt. 

Sie unterstellen, es habe anfangs „sinnvolle Ziele“ gegeben. Diese aber hat lange vor dem Feminismus bereits die Frauenrechtsbewegung verfolgt. Sind Feminismus und Genderismus nicht von Beginn an extremistische Bewegungen?

Rittstieg: Das ist eine Frage der Begrifflichkeiten. Ich nehme Feminismus als einen relativ weit gefaßten Überbegriff wahr, zu dem auch moderate Strömungen gehören. Genderismus hingegen ist eine radikalisierte Form des Feminismus: Die Forderung nach Gleichheit – die für Funktionärinnen und Gender-Forscherinnen auch den besonderen „Charme“ hat, nicht erfüllbar zu sein. Das sichert dauerhaft viele gut bezahlte Arbeitsplätze für Gleichstellungsbeauftragte und Gender-Forscherinnen, die dank ihrer ganz speziellen Auffassung von Gleichberechtigung natürlich zu fast hundert Prozent von Frauen besetzt werden.

Ihr Standpunkt ist also nicht der eines konservativen Kritikers? 

Rittstieg: Ich war in meiner Jugend in der eher linksalternativen Hamburger Umweltbewegung aktiv und begeisterter Anhänger der Grünen. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich das Buch geschrieben habe: der Realitätsverlust der grünen Bewegung in der sogenannten Frauenfrage. Wie viele andere habe ich quasi meine politische Heimat verloren.

Wenn Ihr Buch also nicht von einem eingefleischten Gegner, sondern von einem ehemaligen Jünger des Feminismus stammt, dann ist es selbst Teil der „Gegenrevolution“ – die nach Ihrer Beschreibung ja nicht vom Feind, sondern von den Normalen und eigenen Gemäßigten ausgeht, die irgendwann der Radikalen überdrüssig sind. 

Rittstieg: Ja, das können Sie durchaus so sehen. Wobei ich persönlich mich zwar in linksalternativem Milieu bewegt habe, aber „Jünger des Feminismus“ war ich auch als Jugendlicher nicht. Für mich stand ganz klar der Umweltgedanke im Vordergrund. 

Allerdings beschäftigt sich Ihr Buch eigentlich gar nicht mit der „Gegenrevolution“. Vielmehr arbeitet es den Widerspruch von Gender-Ideologie und Realität auf. 

Rittstieg: Ja, die Kollision der Gender-Ideologie mit der Realität ist Hauptthema meines Buches. Und daraus entsteht letztlich das, was ich – etwas zugespitzt – als Gegenrevolution bezeichnet habe. Man könnte es auch passiven Widerstand nennen, denn es passiert größtenteils unorganisiert. Der Widerspruch zwischen radikal-feministischen Forderungen und der biologischen Realität des Homo sapiens war ja schon zu meinen Studienzeiten sehr leicht erkennbar.

Weshalb hat sich das Ganze dann nicht inzwischen von alleine erledigt, sondern ist sogar gesellschaftsfähig geworden?

Rittstieg: Eben das habe ich mich auch gefragt! Damals dachte ich genauso: das es nur eine Zeitgeist-Mode sei, die sich rasch wieder legen würde. Stattdessen hat sich der radikale Feminismus als Gender Mainstreaming in der Politik, den Medien und sogar in der Wissenschaft immer stärker etabliert.

Sie kennen ja den Hochschulbetrieb – wie erklären Sie sich das?

Rittstieg: In politisch relevanten Forschungsbereichen bekommt man viel leichter Geldmittel und Karrierechancen, wenn man Ergebnisse produziert, die mit dem aktuellen politischen Zeitgeist konform sind. Und gerade in den sogenannten „weichen“ Wissenschaften, zu denen ja auch die Gender-Forschung gehört, ist es besonders leicht, seine Forschungsresultate in eine gewünschte Richtung zu trimmen. In meinem Buch zeige ich an einem konkreten Beispiel, wie einfach das geht und wie verdreht die Ergebnisse ausfallen können.

Also ist die Wissenschaft unfrei?

Rittstieg: So würde ich das nicht formulieren. Ich sehe das eher so, daß der Homo sapiens ein soziales Wesen ist, quasi ein Herdentier mit einem großen Bedürfnis, dazuzugehören. Es gibt immer irgendeinen aktuellen Zeitgeist, der zu jeder Zeit auch übertriebene oder wirklich seltsame Dinge beinhaltet hat, und einen sozialen Druck, sich diesem zu unterwerfen. 

Warum lassen sich das so viele Ihrer Kollegen gefallen? 

Rittstieg: Weil dieser Druck, insbesondere auf den Universitäten, hoch ist. Wer sich nicht dem Gender Mainstreaming beugt, gilt als rückständig. Das ist für einen Wissenschaftler, der ja geistig eher eine Speerspitze sein sollte, unangenehm und nicht gerade karrierefördernd. Dazu kommt dann noch der Vorwurf, man wäre frauenfeindlich und rechtsradikal. Es ist wirklich skandalös, daß die Freiheit des Denkens momentan in der Privatwirtschaft viel größer ist als an den Universitäten! Es sollte ja eigentlich umgekehrt sein. 

Das alles klingt bedrückend. Wieso kommen Sie in Ihrem Buch dennoch zu einem positiven Fazit?

Rittstieg: Weil das, wie schon gesagt, nur die eine „offizielle“ Seite der Gesellschaft ist. Im ganz normalen, alltäglichen Leben sieht es zunehmend anders aus – und auch die öffentliche Diskussion läßt inzwischen vermehrt andere Stimmen zu. Selbst bei den Grünen gibt es inzwischen Politiker, die gemerkt haben, daß man mit radikalfeministischem Furor nur mehr bei sehr überschaubaren Wählergruppen punkten kann. Dazu kommt, daß das feministische Narrativ paradoxerweise zunehmend am eigenen Erfolg zerbröckelt: Vor dreißig Jahren konnte man noch argumentieren, daß in Biologie, Neurologie und Genetik eben finstere Männerseilschaften herrschten, die mit Hilfe ihrer frauenfeindlichen Forschung die Frauen in rückständige Rollen drängen wollten. Heute ist gerade in Biologie und Neurologie der Frauenanteil schon ziemlich hoch – und die Forscherinnen kommen auch nicht zu anderen Ergebnissen als ihre männlichen Kollegen. Und daß auch diese Forscherinnen Teil eines frauenfeindlichen, rechtsradikalen Netzwerkes sind, das ist nicht mehr wirklich gut vermittelbar. Im übrigen finde ich auch die Tatsache, daß unsere Biologie so ist, wie sie ist – nämlich nicht gleich, sondern verschieden – positiv. Wenn man mit Verschiedenheit konstruktiv umgeht, eröffnet sie viel bessere Lebensperspektiven als die Gleichheit: Man ergänzt sich in konstruktiver Weise – in der Biologie spricht man von Symbiose. Während die politisch geforderte Gleichheit ja bekanntlich eher zu einer Konkurrenzsituation mit gegenseitiger Beschädigung führt. Man kennt das unter dem Titel „Geschlechterkampf“.

Ihr Buch hat einen humoristischen Unterton, der es angenehm zu lesen macht, bei dem man sich aber fragt, ob er angemessen ist – angesichts dessen, daß es um ein die Freiheit bedrohendes Thema geht.

Rittstieg: Einerseits haben Sie recht. Ich hatte selber befremdliche Erlebnisse bei der Publikation. Zwei Verleger wollten das Buch machen, sind aber am internen Widerstand ihrer überwiegend weiblichen Belegschaft gescheitert – Toleranz und offener Diskurs sehen anders aus. Andererseits kann man es auch so sehen: Galileo Galilei wurde für naturwissenschaftlich fundierte Äußerungen, die dem damaligen Zeitgeist widersprachen, noch mit dem Scheiterhaufen bedroht, dagegen geht es uns heutigen Naturwissenschaftlern bedeutend besser. Was den humoristischen Unterton in einigen Kapiteln angeht, so wollte ich wie jeder Autor dem Thema gerecht werden – und dieses Thema hat meines Erachtens ernste, aber eben auch sehr komische Facetten. Es ist ja nicht verboten, daß ein Sachbuch hier und da auch ein bißchen Spaß macht. 






Dr. Klaus F. Rittstieg, studierte Chemie und Umweltbiotechnologie und ist international im Innovations- und Produktmanagement tätig. Geboren wurde er 1971 in Hamburg, heute lebt er in Graz. Bereits 2017 erschien sein Buch „zum Nachdenken und Schmunzeln“ (handelszeitung.at) „Die stille Gegenrevolution. Haben wir mit dem Gender-Mainstreaming übers Ziel hinausgeschossen?“ im österreichischen Braumüller-Verlag. 

Foto: Kleinkinder in Kleidchen und Hose; Youtube-Stars (Top-Influencer Dagi Bee und Pamela Reif) propagieren weiblichen Stil; traditionelle Kleiderordnung als Trend auf dem Oktoberfest (v.o.n.u.): „Tatsächlich findet eine gegenläufige Bewegung statt ... Vertreter des Gender Mainstreamings klagen über ’Retraditionalisierung’“