© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Moskau mißachtet das Völkerrecht
Beutekunst: Die Rückgabe von Rußland gestohlener Kulturgüter kommt wegen unterschiedlicher rechtlicher Auffassungen nicht voran
Martina Meckelein / Christian Rudolf

Der Schatz des Priamos: bis 1945 in Berlin. Die Cranach-Sammlung: bis 1945 im Gothaer Schloß. Zwei von 49 noch erhaltenen Gutenberg-Bibeln: bis 1945 in Leipzig. Heute ist das alles Eigentum des russischen Staates. Das ist jedenfalls die offizielle Rechtsauffassung Moskaus. Das föderale Gesetz Nr. 64 wurde dafür erlassen. Allein wie dieses Gesetz in Kraft trat, ist ein Krimi. Aber wie argumentieren die Russen? Und wie parieren die Deutschen? Und was bedeutet das für das deutsche Eigentum? Ein kurzer Abriß eines seit zwei Jahrzehnten andauernden Tauziehens um deutsche Kunstschätze, die von den Sowjets geplündert und geraubt worden sind.

Lew Kopelew berichtet in seinem Buch „Aufbewahren für alle Zeit“, wie sein Vorgesetzter Sabaschtanski nach der Einnahme der Festung Graudenz am 6. März 1945 durch die Sowjets „Waggonladungen mit Möbeln, Teppichen und Kunstgegenständen nach Moskau schleppt“. Ein kleiner Vorgeschmack dessen, was die Alliierten während und nach dem Krieg aus Deutschland rauben werden – und niemals, auch bis heute nicht, zurückgegeben haben (JF 24/17). In einem Punkt hat Rußland allerdings im Vergleich zu den USA, England, Polen oder Frankreich ein Alleinstellungsmerkmal: das sogenannte Beutekunstgesetz. Es besagt, daß Kulturgüter, die in Folge des Zweiten Weltkriegs in die UdSSR „verlagert“, so der allgemeine Sprachgebrauch, wurden, Staatseigentum geworden sind. Jahrzehntelang hatten die Russen geschwiegen über die Mengen an durch die Rote Armee und Stalins Trophäenkommissionen gestohlenen deutschen Kulturgütern. Banden, bestehend aus Soldaten und Wissenschaftlern, raubten teils organisiert, teils wahllos.

Über 2,6 Millionen Kunstwerke, mehr als sechs Millionen Bücher, Kilometer von Archivmaterial, so die Zahlen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. „Auch aufgrund der Zerstörung und Wirren vor und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist es nicht möglich, die Verlagerung und Verluste deutscher Kulturgüter vollständig zu erfassen“, beantwortete die Bundesregierung am 2. März 2018 eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion zur Rückführung deutscher Kunstschätze aus Rußland und Polen (Drucksache 19/1045).

Geschichtsklitterungen im Kreml-Amtsblatt

Die geraubte Kunst verrottete in Depots und Kellern. Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion 1991 beginnen Experten über diese geheimen Bestände zu berichten. 1992 kommt es zu einer ersten Raubkunst-Ausstellung in der Eremitage in Sankt Petersburg. 1993 folgen auf Regierungsebene erste deutsch-russische Gespräche über die Raubkunst. Innenpolitische Zerwürfnisse in Rußland zwischen der rückgabewilligen Regierung und Kommunisten und Nationalisten in der Duma folgen. 1996 geben die Ukraine und Georgien Beutestücke an Deutschland zurück.

Die Russen stellen den Schatz des Priamos aus und erklären zum 1. Juli die Raubkunst per Gesetz zum russischen Staatseigentum. Der Föderationsrat lehnt das Gesetz am 17. Juli ab. Doch die Duma gibt nicht auf, erklärt am 5. Februar 1997 erneut das deutsche zu russischem Eigentum. Am 5. März schwenkt der Föderationsrat auf die Duma-Linie um, woraufhin Präsident Boris Jelzin am 17. März sein Veto einlegt. Mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt ihn die Duma, auch der Föderationsrat lehnt ab. Jelzin verweigert weiter seine Unterschrift. Der Föderationsrat ruft das Verfassungsgericht an. Dieses beschließt am 6. April 1998, Jelzin zur Unterschrift zu verpflichten. Am 21. April tritt es ohne seine Unterschrift in Kraft. Jelzin reicht Beschwerde ein, weil das Gesetz unter anderem gegen internationale Verpflichtungen Rußlands verstoße. Am 20. Juli 1999 wird das Gesetz vom Verfassungsgericht letztinstanzlich bestätigt. Rückgaben an nichtstaatliche Organisationen, die nicht mit Hitler paktiert hätten, seien nun möglich, wie auch Rückgaben von privat von russischen Militärangehörigen „angeeigneten“ Gegenständen.

Dem gegenüber steht die deutsche Rechtsauffassung. Die Nichtrückgabe der Raubkunst wird als Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und völkerrechtlich bindende Verträge zwischen Deutschland und der UdSSR beziehungsweise Rußland bewertet, beispielsweise gegen den deutsch-sowjetischen Vertrag von 1990 und gegen das deutsch-russische Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit von 1992.

Das ist die Ausgangssituation 1999. Seitdem hat sich unter Putin nichts getan. Es fehlt nicht nur am Willen. Es scheint blanker Haß und Hohn mit einer unverschämt frechen Portion Lüge dahinterzustecken. Das Amtsblatt der Regierung, die Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, veröffentlicht am 7. Februar 2019 einen Artikel des Kulturministers der Russischen Föderation, Wladimir Medinskij, zum Thema Restitution der Kulturgüter in den deutsch-russischen Beziehungen. Medinskij, früher Komsomol- und wie sein Chef KPdSU-Mitglied, schreibt dort: „Einige Kulturdenkmäler, wie etwa das Prunkstück der russischen Baukunst, das Kloster Neu-Jerusalem, wurden durch die Deutschen absichtlich gesprengt. Die anderen, wie Tolstojs ‘Jasnaja Poljana’ und Dutzende umliegende Landgüter, wurden komplett ausgeraubt.“ Dagegen ist auf der offiziellen Netzseite des Staatlichen Tolstoi-Museums von gelungener Evakuierung der Einrichtung vor der Besetzung zu lesen: „Am 13. Oktober gingen die Einrichtungsgegenstände in 110 Kisten auf die Reise über Moskau nach Tomsk.“ Den Brand, welchen die Deutschen beim Abzug legten, gelang es „schnell zu löschen“. Nach Restaurierungen gelangten im Mai 1945 die Museumsexponate „wieder an ihren angestammten Platz zurück“. Man wird wohl kaum davon ausgehen können, daß Putins Kulturminister nicht die wahre Geschichte des ihm unterstellten Museums kennt. Sie paßt nur nicht in sein Konzept.

Genausowenig wie die enormen Zahlen, die die Russen seit 1999 in ihren Verlustkatalogen, federführend ist hier das Kulturministerium, aufrechnen. Demnach beziffert das Ministerium die Kriegsschäden auf 1,1 Millionen russische Objekte. „Diese Zahlen sind jedoch zu hinterfragen“, bemerkt der Deutsch-Russische Museumsdialog, der 2005 gegründet wurde und dessen Aufgabe es unter anderem ist, eine Datenbank über Kunstverlust deutscher Museen zu erstellen. „Die russischen Verlustkataloge differenzieren nicht zwischen kriegsbedingten Verlusten und Zerstörung einerseits und den durch stalinistische Verkäufe in der Zwischenkriegszeit entstandenen Sammlungsstücken in den russischen Museen andererseits.“

In Deutschland dagegen gibt es keine oder kaum noch durch die Deutschen geraubten russischen Kulturgüter mehr. Nicht, weil die Deutschen nicht geraubt hätten, sondern weil die Amerikaner aus vier Sammelstellen für durch die Nationalsozialisten geraubte Kulturgüter („Collecting points“) heraus nach und nach die Kunstwerke wieder an die ehemaligen Eigentümer zurückgaben.

Wie steht es um die Rückgabe deutscher Kunstwerke nach 1999? Zum letzten Mal gaben Russen im November 2008 an Deutschland ein Kunstwerk zurück: Die letzten Teile der berühmten mittelalterlichen Glasbilderfenster der Marienkirche zu Frankfurt (Oder). „Weitere Rückgaben sind seither nicht erfolgt“, so die Bundesregierung. Andersherum wurden seit 2006 durchaus noch Kunstobjekte von Deutschland an Rußland gegeben: Bücher, Gemälde, Fotografien und Fassaden-Schmuckelemente aus dem bei Sankt Petersburg gelegenen Schloß Peterhof. Bis November 2017 fanden insgesamt acht Übergaben statt.

Beutekunst-Ausstellung, gesponsert von Berlin

Die Haltung der Bundesregierung, die „weiterhin bemüht ist, durch Fortsetzung der Gespräche in den seit 2004 bestehenden deutsch-russischen Arbeitsgruppen zur sogenannten Baldin-Sammlung und der sogenannten Silbersammlung von Anhalt die Frage der Rückführung dieser kriegsbedingt verbrachten Kulturgüter in die Bundesrepublik Deutschland zu lösen“, ist nach dem Verhalten der russischen Gegenseite nur als naiv zu bezeichnen. Unglaublich ist allerdings die Tatsache, daß die russische Ausstellung  „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ in Sankt Petersburg im Jahr 2013 mit 172.000 Euro deutscher Steuergelder finanziert wurde. 600 geraubte Kunstobjekte aus Deutschland, unter anderem der Goldschatz aus Eberswalde, wurden gezeigt.

Ein sowjetischer Offizier, Wiktor Baldin, erspähte 1945 im Schloß Karnzow in Brandenburg die ausgelagerten Bestände der Kunsthalle Bremen, insgesamt 364 Werke, darunter Zeichnungen von Rubens, Dürer, Tizian und Goya. Sie wurden nach Rußland verschleppt. 1989 berichtete eben jener ehemalige Hauptmann der Roten Armee, der nun Direktor des Russischen Architekturmuseums war, wie er die Zeichnungen und Gemälde in Koffern nach Moskau brachte. 2004 schrieb die FAZ, der russische Kulturminister Michail Schwydkoj rechne damit, daß es Fortschritte in den stockenden „Beutekunst“-Gesprächen nach einer Wiederwahl von Staatschef Wladimir Putin gäbe. Ausdrücklich nannte er die Rückerstattung der Baldin-Sammlung: Nichts davon ist eingetreten. Die Duma weigert sich bis heute, die 362 Zeichnungen und zwei Gemälde zurückzugeben. Auch reden mag man auf russischer Seite nicht mehr. Gespräche über die „Rückführung“ der Baldin-Sammlung oder der Silbersammlung von Anhalt lehnte der russische Kulturminister Wladimir Medinskij 2016 schlichtweg als „verfrüht“ ab.





Chronik

1990er Jahre

 Diverse Hinweise auf streng geheime sowjetische Depots mit geraubter deutscher Kunst.

 Im deutsch-sowjetischen Vertrag vom 9. November 1990 wird vereinbart, daß „verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze (...) an den Eigentümer“ zurückgegeben werden (Art. 16).

 Nach der Auflösung der UdSSR verpflichtet das deutsch-russische Kulturabkommen vom 16. Dezember 1992 die Vertragsparteien, Kulturgüter zurückzugeben (Art. 15).

 Die russische Seite blockiert die Umsetzung der beiden Abkommen schon ab 1993. 1996 „Beutekunstgesetz“: Ein Gesetz der Duma erklärt aus öffentlichen Sammlungen Deutschlands geraubte Kulturgüter zum Eigentum Rußlands. Es tritt schlußendlich Mitte 1999 in Kraft.

Seit 2000

 2005: Gründung des Deutsch-Russischen Museumsdialogs (DRMD)  in Berlin durch 87 Museen, die durch sowjetische Trophäenbrigaden geplündert wurden.

 2008: Rückkehr der letzten fehlenden Fensterbilder der Marienkirche von Frankfurt (Oder). Seitdem keinerlei Rückgaben aus Rußland mehr.

 2008: Zweisprachiges DRMD-Forschungsprojekt „Kriegsverluste deutscher Museen“. Ziel: Aufklärung über Verluste. Es werden 2,5 Millionen in die UdSSR abtransportierte Kulturgüter gezählt.

 2016: Die Bundesregierung bekundet ihre Absicht zu weiteren Verhandlungen mit der russischen Seite. Ein internationales Schieds- oder Gerichtsverfahren zwecks Rückführung strebt Berlin nicht an. (ru)





Eberswalder Goldschatz, Berlin

1945 als Kriegsbeute in Berlin gestohlen, 2004 in einem Depot des Moskauer Puschkin-Museums aufgespürt

„Baldin“-Sammlung, Bremen

364 Werke Alter Meister, 1945 nach Moskau verbracht, trotz Zusagen nicht zurückgegeben

Schatz des Priamos, Berlin

Nach dem Diebstahl des Schliemann-Goldes 1945 erstmals 1996 im Puschkin-Museum ausgestellt

Cranach-Sammlung, Gotha

Von den 40 Gemälden der Cranach-Sammlung aus Schloß Friedenstein kehrten bisher nur die Hälfte zurück

Rüstkammer der Wartburg

Wertvolle historische Waffensammlung, 1946 von der Roten Armee gestohlen, seitdem verschollen