© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Zeitschriftenkritik: Berliner Geschichte
Alltag im totalen Staat
Oliver Busch

Das aktuelle Heft der vom Verein für die Geschichte Berlins herausgegebenen, reich bebilderten Zeitschrift Berliner  Geschichte beschäftigt sich mit der Reichshauptstadt während der NS-Herrschaft. Da Berlin damals die mit Abstand größte deutsche Stadt war, will Chefredakteur Dirk Palm mit dieser Ausgabe mehr geben als bloße Lokalgeschichte, nämlich deutsche Geschichte exemplarisch dargestellt an Berlin, dem Zentrum des Reiches. Der rote Faden, der sich, wie Palm in seinem Geleitwort ankündigt, durch alle Beiträge ziehen soll, ist freilich nur zu Beginn und am Ende sichtbar. Dieser rote Faden ist das konventionelle Muster von der NS-Diktatur als einem totalitären, alle gesellschaftlichen Bereiche ideologisch gleichschaltenden, jede Opposition mit Gewalt brechenden Regime.

Auf den Berliner Alltag übertragen bestätigen dieses Bild die Aufsätze des Emeritus Hans-Ulrich Tha-mer (Münster) und des Gedenkstättenleiters Stefan Hördler, der einen Überblick über die Geschichte von Gewalt und Verfolgung  in „Groß-Berlin“ gibt. 

Die Ursachen der personalisierten Gewalt will Hördler zwar nicht pauschal in der antiliberalen, völkischen NS-Ideologie sehen als vielmehr in „langjährigen Mikrobeziehungen“, die ein Konglomerat politisch-weltanschaulicher, antibürgerlicher und privater Fehden in der deutschen Gesellschaft hervorbrachte. Sie bestanden offenbar schon vor 1933, gediehen jedoch im Klima der Gewalt prächtiger. Aber nur so erkläre sich das „totale Versagen der Zivilgesellschaft“ und das Ausbleiben des Protestes gegen „Morde von Nachbarn an Nachbarn“.

Hördler bedient damit die verbreitete Auffassung vom „totalen Staat“ Adolf Hitlers. Dem widersprechen nicht nur die den Fortbestand tendentiell oppositioneller „Parallelgesellschaften“ (Kirchen, Adel, Arbeiter, Militär, Bürgertum) dokumentierenden Ergebnisse von 30 Jahren Forschung zur Geschichte des 20. Juli 1944 mündenden Widerstands. Auch zwei Beiträge dieses Heftes können als Einspruch gegen solche Vereinfachungen gelesen werden. Christoph Kreutzmüller analysiert den Berliner Alltag im Spiegel eines Artikels, den der Illustrierte Beobachter 1940 über ein Charlottenburger Mietshaus brachte, dessen aus allen sozialen Schichten stammende Bewohner die realisierte Volksgemeinschaft im ersten Kriegswinter repräsentieren sollten. Womit er zugleich ex negativo demonstriert, wie wenig Historiker bisher Zeitungen als „großartige Quelle“ zur Aufklärung jener „Mikrobeziehungen“ nutzten, über die sie wie Hördler voreilig urteilen. Ähnlich exponiert der Ausstellungskurator Bjoern Weigel, der sich der NS-Kulturpolitik und deren fehlender „Einheitlichkeit“ widmet, um dann ängstlich zurückzurudern und spaltenlang gegen das Diktum Volker Dahms, des besten Kenners der Materie, zu polemisieren, die Kulturszene sei zwischen 1933 und 1945 nicht monoton, sondern „vielfältig und bunt“ gewesen.

Kontakt: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur, Elsengold Verlag GmbH, Asternplatz 3, 12203 Berlin. Das Einzelheft kostet 4,95 Euro, im Abo für vier Ausgaben jährlich 18,95 Euro.

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