© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Geschlagen, aber nicht rechtlos
Die Zweite Genfer Konvention von 1929 regelte die korrekte Behandlung von Kriegsgefangenen
Thomas Schäfer

Die meiste Zeit der Geschichte waren Kriegsgefangene komplett rechtlos. Die Sieger konnten sie töten, verstümmeln, mißhandeln, versklaven, demütigen, ausplündern oder gegen Lösegeld verhökern. Das änderte sich erst in der Neuzeit, als humanitäre Grundsätze größere Bedeutung erlangten als bisher und zudem auch Massenheere zum Einsatz kamen, wodurch es Unmengen von Kriegsgefangenen gab. So wie im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, als 400.000 Franzosen in deutsche Hand fielen. Der Umgang mit derart vielen gegnerischen Soldaten mußte zwangsläufig zwischenstaatlich geregelt werden – und zwar auf zivilisierte Weise. Hieraus resultierte die Haager Landkriegsordnung vom 29. Juli 1899 beziehungsweise 18. Oktober 1907. Deren Artikel 4 bis 20 schrieben unter anderem vor, daß Kriegsgefangene „mit Menschlichkeit“ zu behandeln seien, und listeten dann detailliert die Verpflichtungen der Mächte auf, in deren Gewalt sich die Gefangenen jeweils befanden.

Allerdings kam es im Ersten Weltkrieg zu zahlreichen Verstößen gegen diese Vorschriften. Das lag unter anderem daran, daß Länder wie Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland schlichtweg überfordert waren, was die Versorgung und Unterbringung von Millionen Kriegsgefangenen betraf. Außerdem hatten die Bolschewisten nach ihren Machtantritt 1917 alle während der Zarenzeit geschlossenen Verträge gekündigt, was auch für die Abmachungen von 1899 und 1907 galt. Infolgedessen starb mindestens jeder vierte der 2,2 Millionen Soldaten der Mittelmächte in russischer Gefangenschaft. 

Daher wurden nach dem Ersten Weltkrieg viele Passagen der Haager Landkriegsordnung und auch der Ersten Genfer Konvention vom 22. August 1864, welche Vorschriften über den Umgang mit Verwundeten enthielt, überarbeitet. Ein Ergebnis dieser Verhandlungen bildete die Zweite Genfer Konvention vom 27. Juli 1929, genannt „Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen“. Dieses basierte im Prinzip auf den Artikeln der Haager Landkriegsordnung von 1907, enthielt jedoch keine „Allbeteiligungsklausel“ mehr. Das heißt, die Konvention mußte nun auch gegenüber solchen Kriegsparteien eingehalten werden, die nicht zu den 46 Unterzeichnerstaaten zählten. Damit floß sie faktisch in das Völkergewohnheitsrecht ein.

Japan mißachtete eklatant die Genfer Konvention

Das Abkommen basierte erneut ganz explizit auf dem Grundsatz, „daß es Pflicht jeder Macht ist, im äußersten Falle eines Krieges dessen unvermeidliche Härte abzuschwächen und das Los der Kriegsgefangenen zu mildern“ – so stand es in der Präambel, der insgesamt 97 Artikel folgten. Besonders wichtig waren dabei die Artikel 2 und 3: Kriegsgefangene seien „gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier“ zu schützen und hätten „Anspruch auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre“. Ansonsten fanden sich in der Konvention detaillierte Regelungen über den Umgang mit Kriegsgefangenen, die Gestaltung sowie Organisation der Unterbringung, Arbeiten, zu denen die Gefangenen herangezogen werden durften oder auch nicht, ihre Beziehungen zur Außenwelt, zulässige Bestrafungen sowie die Freilassung von Kriegsgefangenen und Verfahrensweisen im Krankheits- und Todesfall. Außerdem einigten sich die Unterzeichnerstaaten darauf, daß neutrale Schutzmächte wie die Schweiz befugt sein sollten, die Einhaltung der Bestimmungen zu kontrollieren und eventuelle Streitigkeiten zu schlichten.

Aufgrund dieser Regelungen von 1929, die zwei Jahre später formell in Kraft traten, hätte eigentlich eine rundum angemessene Behandlung der Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg garantiert sein müssen. Die Praxis sah jedoch völlig anders aus. Und zwar gleich vom 1. September 1939 an, als es in Polen zu ersten Greueltaten gegenüber deutschen Soldaten kam, welche in gegnerische Hand gerieten. Ebenfalls nicht nach der Genfer Konvention verfuhren die britisch-französischen Streitkräfte während des Westfeldzuges der Wehrmacht im Mai/Juni 1940. Darüber hinaus beging die Royal Navy permanente Rechtsverstöße beim Umgang mit gefangenen deutschen Marinesoldaten.

Auch das Kaiserreich Großjapan setzte sich in eklatanter Weise über die Genfer Konvention hinweg, die es genauso unterzeichnet hatte wie das Haager Abkommen: Von den Millionen besiegten Kämpfern Chinas, die auf die Gnade des Gegners hofften, überlebten ganze 56 den Krieg! Und die Todesrate unter US-amerikanischen, britischen, niederländischen, australischen, indischen, kanadischen und neuseeländischen Kriegsgefangenen war mit 27,1 Prozent ebenfalls sehr hoch. Viele der alliierten Soldaten in japanischer Hand wurden auf grausame Art gequält oder getötet. Außerdem mußten die Gefangenen oft verbotenerweise in der Kriegswirtschaft des Inselstaates arbeiten, wovon mehr als 50 Unternehmen wie Mitsubishi profitierten.

Absolut nicht dem Kriegsrecht entsprach auch der Umgang der Sowjet-union mit den über drei Millionen Wehrmachtsangehörigen, welche sich der Roten Armee ergeben hatten. Mehr als ein Drittel der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR starb durch Hunger, Kälte, Zwangsarbeit, Krankheiten und Gewalt.

Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland verstieß gleichermaßen gegen die Regeln der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung. Diese Vertragswerke hatten die Bolschewisten zwar nicht unterschrieben oder schon 1917 gekündigt, jedoch wäre es nach dem Wegfall der Allbeteiligungsklausel juristisch geboten gewesen, ihre Bestimmungen auch auf die Soldaten Stalins anzuwenden. So lag die Todesrate bei den gefangenen Rotarmisten bei etwa 58 Prozent. Einer der Gründe dafür für ihre deutlich schlechtere Behandlung im Vergleich zu den westalliierten Soldaten waren die zahlreichen Verbrechen von UdSSR-Militärangehörigen an deutschen Soldaten, welche die Waffen gestreckt hatten. Die ersten Fälle wurden bereits kurz nach Beginn der „Operation Barbarossa“ publik. So fanden Aufklärungseinheiten der Wehrmacht am 2. Juli 1941 nahe Broniki in der Westukraine 165 exekutierte deutsche Kriegsgefangene. Weitere derartige Massaker ereigneten sich bald an allen Frontabschnitten. Der Spiegel titelte hierzu 1980, die Sowjetsoldaten hätten „Aggression mit Grausamkeit beantwortet“. Das erklärt freilich nicht, warum die Kremlführung auch Zehntausende kriegsgefangene polnische Offiziere bei Katyn exekutieren ließ – im Falle Polens war bekanntlich Moskau der Angreifer gewesen.

Illegale Rheinwiesenlager und Minenräumaktion

Ebenfalls nicht an die Genfer Konvention hielten sich jene westalliierten Befehlshaber, die im Sommer 1945 für den Tod von unzähligen deutschen Soldaten in den berüchtigten Rheinwiesenlagern verantwortlich waren. Das unmenschliche Handeln war hier die Folge der in keiner Weise vom Kriegsvölkerrecht gedeckten Einstufung der Wehrmachtsangehörigen, die erst nach der bedingungslosen Kapitulation in Gefangenschaft gerieten, als „Entwaffnete feindliche Kräfte“ (Disarmed Enemy Forces; DEF) anstatt als Kriegsgefangene (Prisoner of War; PoW). 

Und Frankreich verstieß sogar noch bis Ende 1947 gegen die Genfer Konvention, indem es etliche der 700.000 deutschen Kriegsgefangenen, die es von den USA zur Verfügung gestellt bekommen hatte, zu nach Artikel 37 verbotenen, weil lebensgefährlichen Arbeiten zwang. So mußten bis zu 50.000 ehemalige Wehrmachtsangehörige Minen räumen, wobei Tausende umkamen.

Aufgrund der vielen gravierenden Verletzungen der Genfer Konvention über den Umgang mit Kriegsgefangenen fanden nach dem Zweiten Weltkrieg Verhandlungen über eine erneute Modifizierung des Vertragswerkes statt. An deren Ende stand das Genfer Abkommen Nr. III vom 12. August 1949 mit nunmehr 143 Artikeln, dem inzwischen restlos alle Staaten der Erde beigetreten sind.