© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Der entfesselte Furor aus Böhmen
Mit dem ersten Prager Fenstersturz begann der Aufstand der Hussiten, der eine Blutspur durch Ostmitteleuropa zog
Jan von Flocken

Eine bewaffnete Volksmenge marschierte am 30. Juli 1419 unter Führung des radikalen Predigers Jan Želivský wutentbrannt von der Prager Marienkirche zum Rathaus in der Neustadt. Dort forderte sie die Freilassung von inhaftierten Anhängern des Jan Hus. Als die Ratsherren das ablehnten, stürmte man das Gebäude, warf den Bürgermeister und neun weitere Amtsträger aus dem Fenster. Sie starben auf den Spießen und Speeren der unten Versammelten einen furchtbaren Tod. „Am Sonntag nach Jakobi oder am 30. Tag des Monats Juli sind der Bürgermeister und einige Ratsherren der Neustadt durch das gemeine Volk  (...) vom Neustädter Rathaus frevlerisch hinabgestoßen und grausam abgeschlachtet und ermordet worden“, berichtet ein Chronist. König Wenzel von Böhmen war über diese Greueltat so entsetzt, daß er wenige Tage später am Herzschlag starb. Diesem ersten Prager Fenstersturz folgte (wie auch dem zweiten von 1618) ein langjähriger blutiger Konflikt, die sich bis 1436 hinziehenden „Hussitenkriege“.

Der Prager Theologe Jan Hus war Mittelpunkt einer radikalen Reformbewegung in Böhmen. Er propagierte eine brüderlich in Armut lebende Urkirche, lehnte das Finanzgebaren der Päpste ab, ebenso Pfründen, Ämterkauf und Ablaßhandel, forderte eine Enteignung des Klerus und die Verteilung seiner Güter an die Armen. In seiner programmatischen Schrift „De ecclesia“ erklärte er 1413, die Autorität der kirchlichen Hierarchie könne nur dann anerkannt werden, wenn ihre Handlungen mit den Lehren der Bibel völlig übereinstimmten. 

Besonders brisant war die Behauptung von Jan Hus, Könige und Kirchenfürsten verlören ihre Regierungsgewalt, wenn sie sich im Zustand der Sünde befänden. Das bedeutete, auch ein in seinen Augen als Sünder geltender Monarch sei vor Gott kein König mehr. Diese gefährlichen Attacken auf bestehende Machtverhältnisse wurden durch Hus’ antideutsche Haltung noch verstärkt. Seine Predigten waren mit einer gehörigen Portion tschechischen Nationalismus’ durchsetzt. 1410 wurde er vom Prager Erzbischof mit dem Kirchenbann belegt. 

Die Christenheit litt damals unter einer gefährlichen Spaltung. Drei Päpste bekämpften und verfluchten sich gegenseitig. Um dieses Übel zu beseitigen, berief der römisch-deutsche Kaiser Sigismund 1414 ein großes Kirchenkonzil nach Konstanz. Es sollte die Spaltung beseitigen, einen neuen Papst wählen und die Kirche „an Haupt und Gliedern“ reformieren. Auch Jan Hus wurde nach Konstanz zur Disputation eingeladen. Anklagend heißt es in vielen Geschichtsbüchern, er sei dann hingerichtet worden, obwohl der Kaiser ihm einen „Schutzbrief“ ausgestellt habe. Stimmt das?

Tatsächlich handelte es sich um ein in Latein abgefaßtes Geleitschutzschreiben. Mit diesem Schriftstück vom 18. Oktober 1414 wies der Monarch alle Untertanen an, Hus „transire, stare, morari et redire libere permittis“ (mit Sigismunds Erlaubnis frei durchreisen, bleiben, Aufenthalt nehmen und zurückkehren zu lassen). Nirgendwo verspricht dieses Dokument Schutz gegen eine mögliche Verurteilung durch die Konzilsväter. Dazu besaß Sigismund auch gar kein Recht. Ein Kirchenkonzil bildete die oberste Instanz der Christenheit – weder Kaiser noch Papst durften seine Beschlüsse mißachten.

Jan Hus wurde in Konstanz zum tschechischen Märtyrer

Das sahen auch die Zeitgenossen so. Viele Mitstreiter rieten Hus von der Reise nach Konstanz ab, doch der schlug alle Warnungen in den Wind. Überzeugt von der eigenen Beredsamkeit, lief er ins Verderben. Der Kaiser baute ihm in Konstanz zunächst goldene Brücken. Er versicherte sogar insgeheim, Hus dürfe nach Widerruf seiner Lehren unbehelligt nach Prag zurückkehren und dort quasi einen Widerruf des Widerrufes verfassen. Doch der lehnte jeden Kompromiß ab und bereitete sich auf seine Märtyrerrolle vor. Folgerichtig wurde Jan Hus am 6. Juli 1415 als unbußfertiger Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In Böhmen brachen danach Aufstände der Hussiten los, die im ersten Prager Fenstersturz gipfelten. Dem folgten dann 17 Jahre Krieg und Blutvergießen, vor allem in Böhmen und Mähren. Jan Želivský, der Organisator des Massenmordes vor 600 Jahren, wurde im März 1422 durch das Schwert hingerichtet.