© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Zeugnisse werden zu ungedeckten Schecks
Der Bildungsexperte Hans Peter Klein beklagt die Inflation von Abitur- und Uniabschlüssen
Josef Kraus

In kritischen Fachkreisen ist er seit Jahren geschätzt, die progressive Bildungspolitik schätzt ihn weniger, weil er regelmäßig den Finger in die Wunden legt und auf die gigantischen Defizite deutscher Bildungspolitik hinweist. Die Rede ist von Hans Peter Klein. Von 1977 bis 2001 war er Gymnasiallehrer, danach wurde er auf den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt berufen. Seit kurzem ist der 68jährige im Ruhestand. Das hindert ihn nicht daran, unbequemer Mahner und Diagnostiker zu bleiben. Nach wie vor ist er Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften; zudem war er Mitbegründer und ist Geschäftsführer der 2010 gegründeten Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Mahner ist Hans Peter Klein seit mindestens einem Jahrzehnt. Es treibt ihn um, wie ein Land wie Deutschland über falsche bildungspolitische Ansätze seine Zukunft verspielt. In der FAZ vom 14. Oktober 2010 berichtete er unter der Überschrift „Nivellierung der Ansprüche“ von einem kleinen Experiment: Neuntkläßler (!) konnten ohne Probleme zentrale Abiturarbeiten in Biologie bewältigen, wenn diese Aufgaben an sogenannten Kompetenzen und an den Bildungsstandards orientiert sind. Bis auf vier von 27 Schülern haben alle die realen Abituraufgaben erfolgreich bewältigt, fünf mit Note drei, drei mit Note zwei und einer mit Note eins. 

Hans Peter Klein zeigte damit, wie trivial kompetenzorientierte Abituraufgaben geworden waren, in diesem Fall Aufgaben aus Nordrhein-Westfalen. Wenig später nahm sich Klein in der FAZ vom 3. Februar 2011 unter der Überschrift „Biologie ohne fachwissenschaftliche Inhalte“ das hessische Kerncurriculum Biologie vor und stellte fest: Darin gebe es nahezu keine fachwissenschaftlichen Inhalte mehr. Wörtlich: „Das Schulfach Biologie verabschiedet sich damit endgültig von der Biologie.“ Ausführlich dargestellt ist all dies in seinem 2016 erschienenen Buch mit dem Titel: „Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen – Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel“.

Nun hat Hans Peter Klein spektakulär nachgelegt. Soeben ist sein neues Buch erschienen. Der Titel lautet: „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“. Klein nimmt sich hier vor allem die Tatsache vor, daß Jahr für Jahr mehr Abiturienten ins Studium drängen, ohne dafür die notwendigen Voraussetzungen mitzubringen. Man könnte auch sagen: Aus den Abiturzeugnissen sind Atteste der Studierberechtigung geworden, Atteste der Studierbefähigung sind sie oft nicht mehr. Zugleich verliert die praxisorientierte duale Ausbildung an Ansehen und Attraktivität. Ein dramatischer Fachkräftemangel ist die Folge. 

Obendrein tendieren die durchschnittlichen Abiturnoten ganzer deutscher Länder, einzelner Schulen ohnehin, bald in Richtung 2,2 oder gar 2,0. In Berlin etwa hat sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse von 17 im Jahr 2002 auf 234 im Jahr 2012 erhöht (das ist das Vierzehnfache); selbst von 2006 bis 2016 gab es dort noch eine Steigerung der Abiturzeugnisse mit den Noten 1,0 oder 1,1 von 90 auf 433; das ist das Fünffache. Und Thüringen hatte schon auch mal eine Abiturdurchschnittsnote von 2,16. Früher war das ein Spitzenabitur. 

Schulen und Hochschulen als Zertifizierungsdiscounter

Werden die Abituransprüche nach Jahren des Anspruchsdumping dann tatsächlich eine Spur strenger, dann bricht unter der „Generation Schneeflocke“ bundesweit eine kollektive Hysterie aus. So geschehen nach dem 3. Mai 2019, als Deutschlands angehende Abiturienten ihre Mathematikprüfungen zu absolvieren hatten. Viel zu schwer seien die Aufgaben gewesen, meinten Internet-Petenten von Hamburg über Hannover bis München verkünden zu müssen; sie forderten, daß die Aufgaben auf den Prüfstand gestellt und die Arbeiten der Prüflinge milder beurteilt werden müßten. 

Allein in Bayern haben sich einer entsprechenden Petition über 70.000 Menschen angeschlossen. Es können nicht nur Abiturienten sein, weil es 2019 in Bayern „nur“ etwa 36.000 sind. Also haben Mitschüler, Helikoptereltern oder Helikopteromas mitunterschrieben. Mehrere Bundesländer sind dann auch sofort eingeknickt. In Hamburg bot man den Abiturienten eine zusätzliche mündliche Prüfung zur Notenaufbesserung an, außerdem wurde die Definition der Maximalleistung von 100 auf 85 Prozent richtiger Lösungen abgesenkt; im Saarland wurden die Bewertungsmaßstäbe nach unten abgesenkt. Folge davon wird bleiben, daß immer mehr Hochschulen Förderkurse in Mathematik für die Studienanfänger in MINT-Fächern sowie in wirtschaftswissenschaftlichen Fächern einrichten müssen.

Zu all dem paßt Kleins Buch wie die Faust aufs Auge. Der Autor hält sich allerdings nicht beim Abitur allein auf. Die Fortsetzung der expansiven Entwicklung an Studentenzahlen sieht er in einer Inflation an Dissertationen, Habilitationen, wissenschaftlichen Publikationen, neu gegründeten Fachmagazinen und Plagiaten. Pro Jahr zählt Klein in Deutschland 30.000 Dissertationen, zu 95 Prozent mit den Bestnoten „summa cum laude“ oder „magna cum laude“ bewertet. Üblich, so Klein, seien zudem Dissertationen von Autorenkollektiven, kumulative Dissertationen und kumulative Habilitationen geworden. Rund ein Drittel der Doktoranden und Habilitanden arbeitet so. Was das mit Exzellenz oder mit der Leistung eines Einzelnen zu tun hat, fragt Klein nicht zu Unrecht.

Hans Peter Klein bleibt mit seinem 204 Seiten starken Band nicht nur Diagnostiker. Nachdem er der Politik ganz markant den Vorwurf gemacht hat, daß sie Schulen und Hochschulen zu „Zertifizierungsdiscountern“ erkoren hat, skizziert er am Ende seines Buches ein 15-Punkte-Programm, mit dessen Hilfe das deutsche Bildungswesen wieder anspruchsvoller werden könne. Diese Punkte betreffen die Schule, die Berufsbildung und die Hochschulen. 

Um nur einige wenige der 15 Punkte zu nennen: Die Schulen bräuchten kleinere, homogenere Klassen. Die Angebote der beruflichen Bildung seien offensiver bekannt zu machen. Der wahllosen Vermehrung von Studiengängen müsse Einhalt geboten werden. Es sei eine Exzellenz- und Eliteförderung vonnöten. Die Plagiats- und Ghostwriting-Praxis müsse aufgedeckt werden. Der Bologna-Prozeß müsse ebenso auf den Prüfstand wie das milliardenverschlingende Akkreditierungsprocedere usw. 

Allein Kleins 15 Punkte müßten das Buch zu einer Pflichtlektüre aller politisch Verantwortlichen machen.

Hans Peter Klein: Abitur und Bachelor – wie ein Land seine Zukunft verspielt. Verlag zu Klampen, Springe 2019, gebunden, 204 Seiten, 20 Euro