© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Wir können uns auf etwas gefaßt machen
Bevölkerungsexplosion in Afrika: Die jährliche Auswandererzahl an Afrikanern nach Europa entspricht dem Zuwachs von einer Woche
Michael Paulwitz

Auf dem afrikanischen Kontinent tickt eine demographische Zeitbombe. Detoniert sie, werden die Schockwellen ganz Europa nachhaltig erschüttern. Geographie ist Schicksal, das gilt auch und gerade für Europa und Afrika, die durch das Mittelmeer getrennt und verbunden sind.

Aus europäischer Perspektive werden die Dimensionen regelmäßig unterschätzt. Man spricht von „Afrika“, als handele es sich um ein Land oder doch um einen verhältnismäßig homogenen Raum. Aber Afrika ist ein Kontinent mit 54 eigenständigen Ländern, zahllosen Völkern und unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Schon flächenmäßig paßt Westeuropa, nimmt man die leistungsstärksten Volkswirtschaften zusammen, gleich mehrfach auf die afrikanische Landkarte.

Durchschnittsalter              in Niger liegt unter 16

Derzeit leben im überwiegend dünner besiedelten Subsahara-Afrika rund 1,3 Milliarden Menschen – und damit etwa doppelt so viele wie bei uns in Europa. Um das Jahr 1900, auf dem Höhepunkt des Kolonialzeitalters, waren die Verhältnisse noch umgekehrt: Da lebten in Europa mit 400 Millionen dreimal so viele Menschen wie in Afrika. Damals stellten Europäer ein Viertel der Weltbevölkerung, heute weniger als ein Zehntel. Noch im Jahr 1950 lebten in Afrika nur halb so viele Menschen wie in Europa.

Und der afrikanische Kontinent, dessen Bevölkerung sich in gut einem Jahrhundert glatt verzehnfacht hat, wächst weiter. Bereits in den nächsten zehn Jahren wird die Bevölkerung Subsahara-Afrikas nach Zahlen des europäischen Zentrums für Bevölkerungs- und Migrationsforschung (Cepam) um ein Viertel auf dann 1,5 Milliarden wachsen; bis zur Mitte des Jahrhunderts wird eine Verdoppelung auf 2,5 Milliarden Menschen erwartet. Die Weltbevölkerung, die am 11. Juli 1987 die Fünf-Milliarden-Marke überschritt – seither wird dieser Tag als „Weltbevölkerungstag“ geführt – und die heute auf 7,7 Milliarden Menschen geschätzt wird, soll bis 2050 auf zehn Milliarden angewachsen sein. Jeder vierte wird dann ein Afrikaner sein.

Europas Bevölkerung dagegen stagniert, überaltert und schrumpft. Afrika dagegen hat einen Jugendüberschuß: Mehr als die Hälfte der Einwohner Afrikas ist jünger als 25 Jahre. In Mali liegt das Durchschnittsalter aller Einwohner knapp über, in Niger, einem Haupttransitland für die Migrationsströme nach Norden, sogar unter 16 Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland ist das Durchschnittsalter fast dreimal so hoch – 44 Jahre.

Der „youth bulge“, also der Überschuß an chancenlosen jungen Männern, den der Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn als einen Hauptfaktor zur Beförderung kriegerischer Auseinandersetzungen ausgemacht hat, erzeugt in vielen afrikanischen Ländern zusammen mit dem Wohlstandsgefälle einen immensen Migrationsdruck auf das sich scheinbar entvölkernde Eu-ropa, von dem die Migrationswellen der letzten Jahre nur ein lauer Vorbote waren. Nur jeder vierte der rund zwölf Millionen Afrikaner, die jedes Jahr das Erwerbsalter erreichen, findet auch tatsächlich eine reguläre Arbeitsstelle.

„In keiner Weltregion ist der Wunsch abzuwandern größer als in Afrika“, stellt die aktuelle Studie „Europa als Ziel?“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung fest. 30 Prozent der Afrikaner über 15 Jahre erklärten gegenüber dem Meinungsforschungsinstitut Gallup, sie wollten vorübergehend oder dauerhaft in ein anderes Land ziehen. Das wären allein Stand heute über zweihundert Millionen Menschen.

Zwar besteht eine bedeutende Diskrepanz zwischen der Zahl derer, die aus allgemeiner Unzufriedenheit bekunden, bloß „weg“ zu wollen, und jenen, die tatsächlich konkrete Vorbereitungen treffen und sich auf den Weg machen. Die Zahlen sind aber immer noch eindrucksvoll genug.

Schlechte wirtschaftliche Lage erhöht den Druck 

Zwischen 2010 und 2015 haben sich rund 1,3 Millionen Afrikaner jährlich auf den Weg in ein anderes Land gemacht, hält die Studie fest. Nach Europa seien jährlich rund eine halbe Million gekommen, 43 Prozent von ihnen aus Subsahara-Afrika. Hauptherkunftsländer waren Nigeria, Eritrea, Senegal und Somalia. Allein durch das Bevölkerungswachstum wird sich die Zahl der afrikanischen Auswanderer nach Europa aus dieser Region bis 2030 auf bis zu 675.000 jährlich erhöhen. Die schlechte wirtschaftliche Lage in den meist korrupten Herkunftsstaaten erhöht den Druck noch zusätzlich.

Zumal die Bevölkerung gerade in diesen Jahren auch noch überproportional schnell wächst. Die Einwohnerzahl Äthiopiens wird Prognosen zufolge bis 2050 von derzeit 100 Millionen auf 165 Millionen anwachsen; das bevölkerungsreichste Land Nigeria könnte statt heute schon 190 Millionen Menschen bis zum Ende des Jahrhunderts sogar 750 Millionen Einwohner zählen.

Allein diese Größenordnungen lassen erkennen, daß die stereotypen Bekundungen, man wolle „Fluchtursachen“ bekämpfen, nicht weiterhelfen und Regierungspläne für einen „Marshallplan für Afrika“ angesichts der Geringfügigkeit der bereitgestellten Summen in dem riesigen Schwarzen Kontinent mit seinen gewaltigen Problemen wirkungslos versickern müssen.

Erst recht ist die insbesondere von Uno-Kreisen eifrig propagierte Vorstellung eine Schimäre, die Probleme des afrikanischen Kontinents durch Migration lösen zu können. Bis 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas um das Doppelte der Einwohnerschaft ganz Europas vermehren.

Schon angesichts der enormen Zahl der potentiell und tatsächlich Wanderungswilligen ist die Vorstellung grotesk, Europa könnte die Bevölkerungsüberschüsse des afrikanischen Kontinents in nennenswerter Größenordnung aufnehmen, um Druck aus dem demographischen Kessel zu nehmen.

In Nigeria und Kongo tragen sich heute schon über drei Millionen Menschen über 15 Jahre mit Migrationsplänen, im Sudan etwa zwei Millionen. Die halbe Million afrikanischer Migranten, die derzeit jährlich nach Europa gelangt, entspricht dem Bevölkerungszuwachs des Kontinents von weniger als einer Woche. Selbst wenn Deutschland und Europa das Zehn- oder Zwanzigfache aufnähmen, hätte das auf die Bevölkerungsstruktur der Herkunftsländer kaum Auswirkungen. Es würde aber die Aufnahmeländer – uns – irreversibel verändern.

Entwicklungshilfe dient  Diktatoren und den Helfern

Afrika steckt in einem demographischen Teufelskreis. Seit dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft explodiert dort – von wenigen Ausnahmen in kleineren Ländern abgesehen – die Bevölkerungszahl. Unterentwicklung und hohe Geburtenraten hängen miteinander zusammen. Eine hohe Zahl von Nachkommen gilt im archaischen Wertesystem vieler afrikanischer Kulturen als Reichtum, als Rückversicherung gegen persönliche Armut, aber auch als Altersvorsorge und soziale Absicherung in Ermangelung entsprechender öffentlicher Systeme.

Der Reflex, viele Kinder in die Welt setzen zu müssen, damit trotz hoher Kindersterblichkeit genug Nachkommen übrigbleiben, ist tief verinnerlicht, auch wenn sich die medizinische Versorgung vielerorts, nicht zuletzt aufgrund des Engagements westlicher Helfer, allmählich verbessert. Die Lebensrisiken sind infolge schlechten Regierens durch unfähige, korrupte und gewalttätige Eliten trotzdem noch hoch.

Westliche „Entwicklungshilfe“ in der seit mehr als einem halben Jahrhundert praktizierten Form bietet keinen Ausweg aus dem demographischen Teufelskreis, sie verstärkt ihn vielmehr noch. Das zentrale Problem der Überbevölkerung, das jeder Entwicklung als Haupthindernis im Wege steht, wird von ihr nicht angepackt, sei es aus dogmatischen Gründen bei christlichen Helfern, für die Empfängnisverhütung ein Tabu­ ist, sei es aus ideologischen Gründen, wenn Geburtenkontrolle als Form der Bevormundung verpönt ist.

Westliche Entwicklungshilfe weist zwei grundlegende Fehlsteuerungen auf, legt der afrikaerfahrene langjährige Berufsdiplomat Volker Seitz in seinem vor kurzem neuaufgelegten Buch „Afrika wird armregiert“ dar: Zum einen fördert und stabilisiert sie korrupte und kleptokratische afrikanische Herrscher-

eliten, zum anderen mästet sie eine riesige von ihr abhängige „Helferindustrie“ als Selbstzweck und dient vor allem dieser.

Arme, ungebildete und unterentwickelte Bevölkerungsmassen sind für Afrikas korrupte Machthaber unter diesen Bedingungen ein Vorteil: Sie garantieren den steten Fluß von „Entwicklungshilfe“, die oftmals in den Taschen der Eliten landet, während die Versorgung der unaufhörlich zunehmenden Bevölkerungsmassen der ausländischen Helferindustrie überlassen wird, die aus diesem Grund auch kein ernsthaftes Interesse an der Entschärfung der demographischen Zeitbombe hat.

Wo aber Entwicklungserfolge erzielt werden und Ansätze für eine afrikanische Mittelschicht entstehen, erhöht das paradoxerweise noch den Migrationsdruck, solange vielfältige Migrationskanäle nach Europa offenstehen; denn nur wer etwas Geld auf die Seite legen kann, kann sich die Dienste der Schlepper und Schleuser überhaupt leisten. Mit dem Ergebnis, daß der „Brain-drain“, die Abwerbung der raren Fachkräfte, sogar noch verstärkt wird und korrupte Gewaltregierungen durch die Abwanderung der gebildeteren und ökonomisch beweglicheren Bevölkerungsteile wiederum stabilisiert werden.

Obwohl gerne eine vermeintliche Kollektivschuld des Westens aufgrund der Kolonialvergangenheit bemüht wird, ist die Entwicklungs- und Migrationspolitik Europas im wesentlichen selbst neokolonial: Sie betrachtet afrikanische Staaten nicht als Länder, die für ihre Lage in erster Linie selbst verantwortlich sind, sondern als unmündige Betreuungsobjekte, Absatzmärkte oder Rohstofflager.

Soll die „Bekämpfung von Flucht­ursachen“ etwas anderes als leere Phrase sein, sind also nicht neue „Marshallpläne“ mit noch mehr Transfermilliarden erforderlich, sondern eine Afrikapolitik, die auf Bevölkerungskontrolle und Entwicklung aus eigener Kraft setzt statt auf Migration und Neokolonialismus.