© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Der soziale Friede ist gefährdet
Wohnungsmarkt: Zuwanderung vor allem in arme Stadtviertel / Migranten sollen in den „besseren Vierteln“ angesiedelt werden
Paul Leonhard

Die Schulen sind der erste Seismograph für die sich abzeichnende soziale Entmischung eines Quartiers: wenn Eltern ihre Sprößlinge abmelden, weil in den Klassen zu viele Ausländerkinder oder Mädchen und Jungen aus bildungsfernen Schichten sitzen. Selbst in Dresden, das neben Magdeburg die geringste soziale Spaltung in der Bevölkerung aufweist, schlugen jetzt Eltern Alarm. In Berlin nimmt man dagegen längst als gegeben hin, daß es Kieze mit Schulen gibt, an denen fast alle Kinder aus armen und migrantischen Familien kommen.

Arme und Besserverdienende siedeln sich immer stärker in getrennten Vierteln an, heißt es in einer aktuellen Studie zur „sozialräumlichen Verteilung von Zuwanderern zwischen 2014 und 2017“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Verschärft werde diese Entwicklung dadurch, daß besonders viele Zuwanderer in sozial benachteiligte Stadtteile zögen. So stieg der Ausländeranteil in sozial bessergestellten Stadtteilen im Untersuchungszeitraum um 0,7 Prozent, in benachteiligten Lagen dagegen um das Zehnfache.

Zu lange wurde bei den Problemen weggesehen  

Diese Entwicklung ist nicht neu. Sie zeichnet sich bereits seit den siebziger Jahren ab, als die finanziell klammen Städte bei der Errichtung von Sozialwohnungen immer mehr auf den industriellen Bau setzten und so Trabantensiedlungen an den Stadträndern entstanden. Hier siedelten sich auch jene an, die nach Deutschland kamen, weil sie auf ein leichteres Leben als in ihrer ost- oder südeuropäischen Heimat hofften.

Diese Entwicklung verstärkte sich, weil die deutsche Politik einen ansteigenden Zuzug von Wirtschaftsmigranten zuließ, deren Ziel allein die Integration in das für sie lukrative deutsche Sozialsystem war. Allmählich entstanden in einigen Städten soziale Brennpunkte, in denen der Staat das Gewaltmonopol verlor und nun kriminelle Clans das Sagen haben.

Zu einem Paradigmenwechsel kam es nach 1990 auch in den neuen Bundesländern. Die eben noch heißbegehrten, weil alternativlosen Plattenbauten wurden entwertet, vielerorts abgerissen, weil der Gesetzgeber die kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften per Altschuldengesetz dazu zwang oder weil es mit dem Wegbrechen ganzer Industriezweige keine Mieter mehr gab.

In mitteldeutschen Großstädten, wo auf die Modernisierunge der „Platte“ – durch Rückbau von Stockwerken, Anbau von Fahrstühlen und Aufwertung des Umfelds – gesetzt wurde, sind diese Viertel noch immer sozial gut gemischt.

Der Anteil der Ausländer sei in Städten mit hohem Wohnungsleerstand und dort speziell in den sozial sehr ungünstigen Lagen besonders stark gestiegen, heißt es in der Studie: „Das ist ein Hinweis darauf, daß Zugewanderte Wohnungen auf dem freien Markt nur dort gefunden haben, wo die Mieten niedrig sind und wenige Menschen leben wollen.“

Was die Studie von Marcel Helbig und Stefanie Jähnen nicht thematisiert, ist, daß das Problem der Ghettobildung hausgemacht ist. Zur hohen Konzentration von Migranten kommt es in den Problemvierteln, weil die Politik zuläßt, daß Bürgerkriegsflüchtlinge, politisch Verfolgte, Geduldete und auf ihre Abschiebung Wartende nicht in den Kommunen und Landkreisen bleiben müssen, denen sie zugeteilt wurden.

Helbig und Jähnen haben für ihr Diskussionspapier die Daten von 86 Städten mit insgesamt 3.370 Stadtteilen untersucht. Die Zuwanderung habe durch die Öffnung der Grenzen 2015 enorm zugenommen. Auch habe es, weitgehend unreflektiert von den Massenmedien, eine EU-Binnenmigration nach Deutschland gegeben, die 2016 und 2017 die „wichtigste Zuwanderungsform“ war.

Bereits im Vorjahr hatten die beiden Wissenschaftler mit einer Studie zu „Trends und Analysen der Segregation“, also der Entmischung von unterschiedlichen Elementen in einem Beobachtungsgebiet, die Frage aufgeworfen: „Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte?“ Dafür untersuchten sie die Verteilung der Wohnstandorte verschiedener Bevölkerungsgruppen in 74 Städten und kamen zu dem Ergebnis, daß die soziale Entmischung aufgrund von sozialem und ökonomischem Druck 0vor allem Familien mit Kindern und die Rentnergeneration trifft.

Zu dieser Erkenntnis war bereits 2012 eine Untersuchung des Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) gekommen, die die Entwicklung der Jahre 2007 und 2009 in Städten wie Berlin, Bremen, Dortmund, Frankfurt am Main, Hamburg und Stuttgart miteinander verglichen hatte und trotz konkreter Empfehlungen an die Politik folgenlos blieb.

In Erfurt – hier hat Helbig einen Lehrstuhl für Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität inne – machte bereits 2001 ein Sozialstrukturatlas auf sich abzeichnende „Gebiete mit dringendem Handlungsbedarf“ aufmerkam. Seitdem hat sich die soziale Lage in den Plattenbaugebieten verschärft. Er sei erschrocken, daß inzwischen die soziale Spaltung in Erfurt im Vergleich aller großen deutschen Städte „so ausgeprägt“ sei, so Helbig.

Trotz des Wirtschaftsaufschwungs gebe es in 36 der untersuchten Städte Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II leben“, heißt es in der Studie: Diese Konzentration sozial benachteiligter Kinder wirke sich negativ auf die Lebenschancen der jungen Bewohner in diesen Quartieren aus.

Welche Sprengkraft fehlender Wohnraum und die Spekulation mit dem vorhandenen birgt, zeigt derzeit die machtvolle Enteignungsinitiative in Berlin, die Großvermieter ab 3.000 Bestandswohnungen treffen soll. „In Städten treten deren soziale Gegensätze besonders deutlich hervor“, heißt es in einer Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung zur Ungleichheit in den Städten vom vergangenen Sommer.

Auf Druck von Mieterinitiativen haben einige Städte stadtplanerische Instrumente wie die in Paragraph 172 des Baugesetzbuchs verankerte soziale Erhaltungssatzung wiederentdeckt, die eine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen sowie Luxusmodernisierungen in ausgewiesenen Wohngebieten verhindern soll. Interessant ist die Erkenntnis der Wissenschaftler, daß „die Höhe der Mieten entgegen unserer Annahme keinen verstärkenden Einfluss auf die soziale Segregation in einer Stadt“ habe. Dagegen steige die Armutssegregation „überraschenderweise mit dem Anteil von Sozialwohnungen“.

Sollte sich die Politik daher vom Bau von Sozialwohnungen verabschieden und Modelle von Mietzuschüssen präferieren? Helbig und Jähnen schlußfolgern: „Das bedeutet aber nicht, daß der soziale Wohnungsbau die soziale Segregation nicht wirkungsvoll eindämmen kann. Vielmehr weisen die Ergebnisse darauf hin, daß sich Sozialwohnungen in den Gebieten konzentrieren, wo ohnehin schon die meisten Armen wohnen.“

Das Wegbrechen traditioneller, beschäftigungsintensiver Branchen wie der Textil-, Werft- und Montanindustrie hatte die Arbeitslosigkeit in westdeutschen Städten seit Anfang der achtziger Jahre, in west- und ostdeutschen Städten in den neunziger Jahren stark ansteigen lassen und konnte nicht durch im Dienstleistungsbereich entstehende  Arbeitsplätze reduziert werden, heißt es in der Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung. Langzeitarbeitslosigkeit habe zu einer Verfestigung der Armut geführt.

Ein Beispiel dafür ist Mülheim an der Ruhr. In kaum einer anderen Großstadt hat die Armutsentwicklung zuletzt eine derartige Dynamik erfahren wie in der einstigen „Stadt der Millionäre“. Inzwischen lebt in manchen Straßen fast jeder zweite Bewohner von Hartz IV. „Es gibt Straßenseiten, dort liegt die Quote nahezu bei 100 Prozent“, sagt Sozialforscher Volker Kersting. Die Armut breite sich mit einer Dynamik aus, die für die Stadt „dramatisch“ sei.

Mülheim an der Ruhr ist dabei keine Ausnahme. In vielen Städten geht ein Sinken der Arbeitslosenquote mit einem Anstieg der Armutsgefährdungsquote einher. Als arm bzw. armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens dieser Bezugsgruppe erzielt. Insbesondere in Städten des Ruhrgebiets sowie in Stuttgart steigt die Armutsgefährdungsquote sehr deutlich an. Für Berlin, Hamburg und Leipzig gilt sie als konstant, für Dresden, München und Hannover ist sie sogar gesunken.

Bundeszentrale übt sich in Optimismus 

Grund für diese Entwicklung ist auch der polare Charakter der Dienstleistungsökonomie, wo geringentlohnte Arbeitsplätze im Gesundheitssektor und der Gastronomie hochentlohnten im Finanzsektor, der Industrie, in den Forschungseinrichtungen und der Verwaltung gegenüberstehen. „Diese Spaltung in einen ausgeprägten Hochlohn- und einen Niedriglohnsektor findet über Prozesse der sozialen Segregation seine Entsprechung in der sozialräumlichen Spaltung der Städte und Spaltung zwischen Stadtregionen“, so die Bundeszentrale für politische Bildung, die sich um Optimismus bemüht: Für fast jede Großstadt könne gesagt werden: „Bei ständiger Reproduktion der Segregation der Städte in qualitativ verschiedene Quartiere achtet eine soziologisch informierte und polizeilich präsente Gegensteuerung darauf, daß man noch durch alle Quartiere der Stadt unbeschadet durchkommt.“

Die Autoren der Berliner Studie dürften mit ihrem Vorschlag, Migranten „im Sinne einer gelingenden Integration“ in den Vierteln der Besserverdienenden unterzubringen, auf wenig Gegenliebe stoßen. Sie selbst räumen ein, daß man alteingesessenen einkommensschwachen Menschen nicht erklären könnte, daß für Zuwanderer „nicht die gleichen Regeln beim Wohnraum gelten wie für sie“. Trotzdem: „Biete man Zuwanderern vorrangig Wohnraum in besseren Wohnlagen an, werde das den sozialen Frieden kurzfristig auf die Probe stellen. Biete man ihnen dort Wohnraum an, wo es der Markt vorgibt, gefährde man den sozialen Frieden eher mittel- und langfristig.“ Letztlich ergebe sich aus „jedweder Extremposition“ eine „potenzielle Belastung für das gesellschaftliche Zusammenleben“.