© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Es kann nur einen Sieger geben
Mehr als nur der Schöpfer von „Moby-Dick“: Eine Erinnerung zum 200. Geburtstag von Herman Melville
Dietmar Mehrens

Es gibt Schriftsteller, deren Leben anmutet, als entstammte es selbst einem der Abenteuerromane, die sie zu Papier gebracht haben: Mark Twain war Lotse auf einem Mississippi-Dampfer, Jack London suchte Gold in Alaska, Joseph

Conrad schmuggelte Waffen, Hemingway kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg. Herman Melville, der mit „Moby-Dick“ das vielleicht berühmteste Werk der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts schuf, gehört mit hinein in diese Reihe der Abenteurer-Autoren. Wie Joseph Conrad fuhr er zur See und verarbeitete seine Reisen in ferne Gefilde später zu lebenspraller Literatur. Melville war aber auch: Pelzverkäufer, Landarbeiter, Grundschullehrer, Bankangestellter, Zollinspektor, Deserteur, Häftling, Lyriker.

Seine Karriere auf See begann 1837. In dem Jahr heuerte der gebürtige New Yorker, dessen Vater früh verstorben war, als Steward auf einem Linienschiff nach Liverpool an. Die für sein weiteres Leben folgenreichste Entscheidung war dann aber die für den Walfänger „Acushnet“, auf dem Melville in die Südsee fuhr. Er desertierte, entschloß sich zum Verbleib auf einer polynesischen Insel, floh nach Tahiti und landete schließlich in Honolulu, wo er sich 1843 von der US-Marine rekrutieren ließ.

Seine autobiographischen Romane „Taipi – Ein Blick auf polynesisches Leben während eines viermonatigen Aufenthalts in einem Tal der Marquesas-Inseln“ (1846) und „Omu – Ein Bericht von Abenteuern in der Südsee“ (1847) geben in schillernder Manier Auskunft darüber, was ihr Autor am anderen Ende der Welt erlebt hat. Die exotische Thematik – Melville war der Mann, der „unter Kannibalen gelebt hatte“ – machte vor allem „Taipi“ zum durchschlagenden Erfolg.

Die daraus resultierende finanzielle Konsolidierung führte das bis dahin abenteuerliche Leben des 1844 aus dem Marinedienst Entlassenen in ruhigeres Fahrwasser: Der frischgebackene Erfolgsautor ließ weitere Romane folgen, heiratete und zog mit seiner Frau auf eine Farm in Massachusetts. Hier kam es zu einer bedeutsamen Begegnung mit dem Schriftstellerkollegen Nathaniel Hawthorne. Die Freundschaft der beiden ähnelt in manchem der zwischen Goethe und Schiller: Hawthorne war ein ähnlich kritischer Leser von „Moby-Dick“ wie Schiller von Goethes „Wilhelm Meister“ und schlug viele Änderungen vor. Kein Zufall also, daß das Erscheinen zweier der bedeutendsten Romane der amerikanischen Literaturgeschichte, Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“ und Melvilles „Moby-Dick“, in denselben Zeitraum fällt: 1850/51. Während jedoch Hawthorne mit seinem Buch den Höhepunkt seiner Karriere erreichte, begann Melvilles Stern rapide zu sinken: „Moby-Dick“ mit seinen teils weitschweifigen philosophisch-religiösen Betrachtungen kam bei den Lesern nicht besonders gut an. 

Die Jagd nach dem unheimlichen weißen Wal, dem der rachsüchtige Kapitän Ahab den Verlust eines Beines nachträgt, ist zugleich Abenteuerroman und üppig angelegte Allegorie, ein Jedermann der gefallenen Menschheit. Ahab ist der Name eines israelischen Königs, den die Bibel als besonders böse schildert. Ahabs Widersacher war der von Gott beauftragte Prophet Elia. Wenn in den ersten Kapiteln von „Moby-Dick“ eine seltsame Gestalt namens Elias den Ich-Erzähler Ismael (ebenfalls ein biblischer Name) vor der Reise mit Ahab warnt, ist das mithin eine fast schon aufdringliche Symbolik. Und mit seinem Anklang an „peccatum“, das lateinische Wort für „Sünde“, kann die „Pequod“, deren Kapitän Ahab ist, eigentlich nur noch ein Reiseziel haben: die Abgründe des Menschseins.

Während Wale in unserer Zeit als schwimmendes Weltnaturerbe gelten, setzte das pietistische Amerika, in dem Melville aufwuchs, den Meeressäuger mit dem Leviathan gleich, dem Unterseeungetüm aus dem Alten Testament, der Verkörperung des Bösen. „Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen?“, übersetzt Luther eine Bibelstelle aus dem Buch Hiob. Es klingt wie ein mahnender Zuruf direkt an die Adresse Ahabs.

Und deren gibt es noch einige mehr, während der Walfänger über die Weltmeere segelt. Noch kurz vor der Katastrophe fordert ihn der gottesfürchtige Obermaat auf, „eine bessere Reise“ zu unternehmen „als die, auf der wir jetzt sind“. Doch Ahab, Inbegriff des verstockten Sünders, will nicht hören. Zu groß ist die Verlockung, das Weiß des Wals als Projektionsfläche für die eigene Bosheit zu nutzen und mit ihm auch die eigene Verworfenheit im Meer zu versenken.

Bei einem vom Autor mit Symbolik aufgeladenen Blitzeinschlag auf der „Pequod“ treten Ahabs Motive offen zutage: Der Einbeinige wendet sich in herausforderndem Ton an den „Geist des reinen Feuers“, dessen „richtige Verehrung“, so der Schiffskapitän wörtlich, „der Trotz“ sei. Seine Sünde ist die klassische Hybris: Der Versuch, in der Gestalt des Wals die eigene Verdammnis zu bezwingen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Doch kann sie, dieses trotzige Wort schleudert er der Bestie am Ende entgegen, ihn nicht besiegen, nur vernichten. Den überdeutlichen Vorzeichen gemäß gipfeln Ahabs anmaßende Ambitionen in einem infernalischen Tosen von menschlichem Aufbegehren und göttlichem Verhängnis, das nur einen Sieger kennen kann.

In einer säkularisierten Gesellschaft wie der unseren mutet Melvilles biblische Wort- und Themenwahl archaisch an – und weckt zugleich die Sehnsucht nach einem gesellschaftlichen Fundament, das nie brüchig wird, weil Tradition und Religion seinen Baustoff für alle Zeiten binden.

Doch der Roman funktioniert auch – und das macht seinen Reiz aus –, wenn man die Bildebene völlig ausblendet und ihn als reinen Abenteuerroman liest. Mit einigem Recht kann man Melville sogar als Erfinder dessen bezeichnen, was Cineasten heute unter einem „Showdown“ verstehen. Das würde auch den in das Kinojahrhundert verlagerten späten Ruhm von „Moby-Dick“ erklären. Zwar hat es finale Konfrontationen mit garantiert tödlichem Ausgang in epischen Texten auch schon vor Ahab und dem weißen Meereskoloß gegeben, aber die raffinierte Komposition, in der ihr Schöpfer alle Handlungsfäden auf den existentiellen Endkampf zwischen den ungleichen Todfeinden zulaufen läßt, und die kaum zu übertreffende Wucht dieses Elementarduells machen „Moby-Dick“ für alle Zeiten zur Meßlatte für gelungene Dramaturgie.

Angesichts dessen kann man es nur als Ironie des Schicksals werten, daß „Moby-Dick“ nicht nur Kapitän Ahab, sondern auch seinen Erfinder in einen Abwärtsstrudel gerissen hat. „Pierre“, ein Jahr nach der Walfänger-Allegorie erschienen, war ein noch größerer Mißerfolg. Auch die nachfolgenden Romane und Novellen brachten keine Wende.

Dabei sind gerade unter den kürzeren Prosawerken, die gesammelt 1856 als „Die Piazza-Erzählungen“ erschienen, Meisterwerke von zeitloser Brillanz. In einigen zeigt sich Melville als kafkaesker Rätselspurenleger. „Der Blitzableiter-Mann“, die Parabel über einen bigotten Versucher, in der Melville seine Vorliebe für die aus „Moby-Dick“ bekannte Blitz-Symbolik noch einmal zur Aufführung bringt, ist beliebte Lektüre im Englischunterricht, „Benito Cereno“ ein für die unterschiedlichsten Deutungen offener und gerade deshalb virtuoser Text zum Thema Rassismus, und „Bartleby der Schreiber“ eignet sich sogar als satirischer Diskussionsbeitrag zur Integrationsproblematik, die Deutschland aktuell in Atem hält: Der ebenso mittellose wie geheimnisvolle Bartleby bekommt eine Arbeit als Kanzleischreiber, verweigert anschließend aber mit den Worten „ich möchte lieber nicht“ beharrlich Aufgaben, zu denen er als bezahlte Arbeitskraft eigentlich verpflichtet ist. Aus Mitgefühl, vielleicht auch aus Angst, sieht der Anwalt, auf dessen Gehaltsliste er steht, trotzdem davon ab, ihn zu feuern.

In „Bartleby“ und ebenso in dem, was der gottesfürchtige Kapitän Delano über Benito Cereno berichtet, den Kommandanten eines verwahrlosten spanischen Sklavenschiffs, erinnert der sachlich-kühle Ton bei gleichzeitiger Absurdität der Handlung an Kafka. Nach der Begrüßung durch den gebrechlich wirkenden Kapitän Cereno, dem die Novelle ihren Namen verdankt, nimmt Delano immer mehr Anzeichen dafür wahr, daß an Bord etwas nicht stimmt – nur was? 

Traurig die Schlußkapitel im Leben des Autors: 1861 sah er sich gezwungen, seine Farm zu verkaufen und nach New York zurückzukehren, wo er sich als Zollinspektor verdingte und schließlich 1891 im Alter von 72 Jahren starb, verarmt, verstört, vergessen. In diese letzte Schaffensperiode fallen noch eine Reihe von Gedichten sowie das Spätwerk „Billy Budd“. Darin führt Melville seine Leser noch einmal zurück in die maritime Welt, der er seinen frühen Ruhm verdankte: Ein junger Matrose muß sich nach einem tödlichen Zwischenfall auf See vor einem Militärgericht verantworten – und einmal mehr verbirgt sich hinter den Schiffsplanken ein spirituelles Existenzdrama. Das Buch wurde erst 1924 veröffentlicht – symptomatisch für die späte Anerkennung, die Melvilles Werk erfuhr.

Der großartige Erzähler blieb ohne jede Kenntnis von dem überwältigenden Erfolg, den seine Romane im Jahrhundert nach seinem Tod erzielten: Gregory Peck machte Kapitän Ahab mit hundert Jahren Verspätung zu der Legende, die Melville hätte sein können, und vervielfachte den Ruhm des weißen Wals. Und ein gewisser Jean-Pierre Grumbach entschädigte den zu Lebzeiten Verkannten, indem er unter dem Familiennamen seines Lieblingsautors zu Filmruhm gelangte. Auf den Plakaten berühmter Alain-Delon-Filme wie „Der eiskalte Engel“ oder „Vier im roten Kreis“ findet sich der Name des Regisseurs Jean-Pierre Melville. Das klingt einfach mehr nach Abenteuer.






Dr. phil. Dietmar Mehrens lehrte deutsche Philologie an Universitäten im In- und Ausland.

Herman Melville: Moby-Dick. Herausgegeben von Daniel Göske, Hanser Verlag, München 2001, gebunden, 1.048 Seiten, 36 Euro