© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Rückbesinnung auf den Kern des Glaubens
Säkularisierung: Die evangelische und die katholische Kirche haben Hunderttausende Mitglieder verloren
Gernot Facius

Deprimierende Nachrichten über das kirchliche Leben in Deutschland: Die Katholiken haben 2018 rund 309.000 Mitglieder verloren, davon 216.000 durch Austritte. Bei den Protestanten ging die Mitgliederzahl um 395.000 zurück, die Austritte summierten sich bei ihnen auf 220.000. Die Bilanz: Im Land der Reformation stehen aktuell 21,1 Millionen Evangelische 23 Millionen Katholiken gegenüber. Insgesamt sind 53,1 Prozent der Einwohner in Deutschland Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. 2005 waren es noch 62 Prozent. 

Wissenschaftler halten weiter düstere Prognosen bereit. Bis 2060, so die Studie „Kirche im Umbruch“, würden die beiden Großkirchen die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Die Katholiken könnten allerdings von Zuwanderungsgewinnen aus Süd- und Osteuropa profitieren. Sie blieben die mitgliederstärkste Konfession. Da klingt es mutig, wenn etwa Bischof Martin Hein (65) von der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck verkündet: „Wir werden auch künftig Volkskirche sein.“

Abbruch religiöser Traditionen

Natürlich entsprechen die Zahlen einem gesellschaftlichen Trend: Menschen möchten sich immer weniger an Organisationen binden lassen, auch die Säkularisierung schreitet voran. Der Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann hat schon 2011 den „eklatanten Abbruch religiöser Traditionen in beiden Kirchen als langfristigen Trend“ herausgestellt.

Aber das allein erklärt noch nicht den Schrumpfungsprozeß. Die Hierarchen der Kirchen haben sich zu lang auf dem finanziellen Polster ausgeruht, das ihnen die dank der guten Konjunktur sprudelnden Steuereinnahmen garantierten; da konnten die Austrittszahlen verkraftet werden. Auf Synoden und Katholikentagen wurde zwar über „Neuevangelisierung“ debattiert. Aber bei diesem Vorsatz ist es dann geblieben.

Nicht wenige Beobachter erinnerten in diesem Kontext an die anglikanische Kirche in Großbritannien. Sie erlebte vor vierzig Jahren einen drastischen Schwund an Mitgliedern und Geld, weil sie keine Kirchensteuer kennt. Das führte zu einem Umdenken. Heute spielt das Thema Evangelisierung bei ihr eine größere Rolle.

Die Kirchen in Deutschland müssen offenbar kontinuierlich an den Kern des christlichen Glaubens erinnert werden. Die entscheidende Frage, um die sich vor allem protestantische Theologen herumdrücken, hat der junge Politikwissenschaftler Erik Flügge (33), ein Katholik, auf dem Dortmunder Kirchentag formuliert: „Was glauben wir?“ Der Mittelpunkt der evangelischen Kirche könne nicht der Kampf gegen den Klimawandel sein, „sondern muß Glaube sein“. Flügge hat vorgerechnet, daß der sonntägliche Gottesdienst in den evangelischen Gemeinden nur noch von etwas mehr als drei Prozent (nach EKD-Statistiken 3,6 Prozent)besucht wird. Bei den Katholiken waren es immerhin noch um die zehn Prozent – mit sinkender Tendenz.

Es wächst die Kritik an „liturgischem Wildwuchs“ und „fehlender Gottesdienstzentrierung“ in der „Kirche der drei Prozent“. So kam die evangelische Theologin und Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg (67) schon vor einem Jahr in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk zu dem Urteil: Natürlich garantierten auch volle Kirchen kein lebendiges Christentum, „aber mit leeren Kirchen gibt es gar kein Christentum mehr. Und wenn wir nicht den Ofen warm halten, von dem dann alles abstrahlt – und dieser Ofen wird befeuert im Gottesdienst –, dann ist er bald kalt und strahlt gar nicht mehr ab.“

Die Berliner Professorin liefert gleich ein Rezept mit, wie man den Ofen befeuern könne: mit guten Predigten, schöner Kirchenmusik, „die sowohl gute Texte hat als auch herzergreifend ist, durch Gebete, die wirklich Gebete sind und nicht Verlautbarungen“.

In den EKD-Gliedkirchen hat das Nachdenken begonnen, gestützt auf eine „Kirchgangsstudie“ ihrer Liturgischen Konferenz. Weihnachten, Taufe und Beerdigungen, aber auch andere auf den Lebenslauf bezogene Anlässe wie die Einschulung – das seien Gottesdienste, die viele Menschen ansprächen. Ob das hilft, dem kirchlichen Leben wieder Impulse zu geben? Im Kölner Domradio zeigte sich der Berliner Erzbischof Heiner Koch (65) skeptisch: „Ich bin fest davon überzeugt, wenn wir alles neu machen würden, um dem Mainstream zu folgen, und eventuell tun, was die Menschen von uns erwarten, werden auch wir den Trend nicht aufhalten. Ich bin auch für Reformen, aber ich glaube nicht, daß durch noch so viele Reformen die Menschen in Massen wiederkommen. Das sieht man auch in der evangelischen Kirche.“

Die evangelische Kirche, auch das läßt sich den statistischen Daten entnehmen, schafft mehr Austritte als die katholische, ganz ohne die schlagzeilenträchtigen Skandale, von denen die Katholiken heimgesucht werden – ohne Zölibat, strenge Morallehre, dafür mit Pfarrerinnen und größtmöglichem Anschluß an die Trends und Moden der Zeit. „Warum also“, so fragt man sich vor allem im traditionalistischen Milieu der katholischen Kirche, „warum wird uns ständig empfohlen, es der evangelischen Kirche nachzumachen?“