© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Es wird nur noch gestammelt
Phraseologie: Warum die Latinisierung der Umgangs- und Wissenschaftssprache böse Absicht ist
Eberhard Straub

Heute leben die ersten Generationen seit zweitausend Jahren in Europa, die völlig unberührt vom Latein aufgewachsen sind und sich selbstbewußt ohne jede Kenntnis vom lateinischen Europa als gute Europäer verstehen. Nicht einmal während der dunkelsten Zeiten im 6./7. Jahrhundert n. Chr. hat es das gegeben. Ganz im Gegenteil: Mönche und Priester der barbarischen Germanen in St. Gallen, auf der Reichenau, in Regensburg oder Fulda gaben sich erhebliche Mühe, die einzige Kultursprache neben dem Arabischen im westlichen Europa vor der vollständigen Barbarisierung zu bewahren. Dort sprach man bald besser Latein als in Rom. Trotz dieses wahrscheinlich irreparablen Kulturbruchs wimmelt es heutzutage in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in Zeitungsartikeln und in Verlautbarungen der Politiker von lateinischen oder nur lateinisch anmutenden Worthülsen.

Das klingt dann ungefähr so: Kalibristische Eskalation der Migration, die zu alarmistischen Spekulationen führt, macht Entwürfe transformierender Vernunft bei der Affektivitätsgebundenheit der Politiker erforderlich, um die Validität solcher Potentiale in ihrer Positionalität mit prinzipiengeleiteter Aktzentsetzung nicht etwa als Problemfaktor erscheinen zu lassen. 

Oder: Auf der Ebene diskursiver Konstruktionen sind Krisennarrative unvermeidlich, deren Spezifik, publik in konkretisierte Positur gebracht, dezidierteste Aufnahme in konsequentialistischer Absicht findet, um zu ultimativen Alternativen zu gelangen. Sie ermöglichen eine artifizielle Resubstantialisierung diverser Konzeptionen und Visionen, ungeachtet der Reziprozität der Reaktivitäten mit prozessuralen Dimensionen wegen einer ambivalenten Agenda unter dem Druck des populistischen Tritonus, der das elektorale Spektrum in der jetzigen Dekade trotz emanzipatorischer Signale kannibalisiert.

Toleranz ist ein fast heiliges Wort geworden 

Uff!! Das sind so die verbalen Standardsituationen bei der Fokussierung auf Kontemplation, die bei der Temporalität, der alles Politische unterworfen ist, bei der diskursiven Konstruktion im weiter skalierten Rahmen der Diskussionsarchitektur erforderlich sind. Wer anders redet, manifestiert sich als autoritärer Populist, der seine auf Dauer gestellte Infantilität der Überforderung in zertifizierter Antimodernität virulent macht.

Latein war einmal die wichtigste Umgangssprache in der großen Welt und an den Schulen und Universitäten. Über das Latein wurden die Volkssprachen zu Kultursprachen verfeinert. Bei den meisten lateinischen Wörter, die wir gebrauchen – und es sind sehr viele –, denkt keiner an ihren lateinischen Ursprung, sie sind keine Fremdwörter, sondern vertraut und allgemein verständlich. Republik, Parlament, Nation, Monumentalität, Urbanität, Liberalität, Pietät, animiert, und auch die Gaudi fordern uns zu keinem umständlichen Nachsinnen auf.

Latein war einmal eine lebendige Sprache. Die Sprache der Kirche, des Gymnasiums und der Universität. Theologen und Juristen latinisierten unseren Alltag. Jeder beherrschte eine Reihe von lateinischen Redensarten, die daher volkstümlich waren. Jeder spricht heute zwar von Integration, Migration, von Toleranz und Union, von Transparenz und Pluralismus, von Innovation und Progression, durchaus schillernde und gar nicht eindeutige Worte. Toleranz meint nur Duldung. Goethe meinte in  seinen „Maximen und Reflexionen“, sie könne nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie müsse zur Anerkennung führen, denn dulden heißt beleidigen! 

Toleranz ist dennoch ein fast heiliges Wort geworden. Wir vermeiden das sehr klare und einfache deutsche Wort, um dessen eindeutigen Konsequenzen auszuweichen. Integration bedeutet im Wortsinne, eine verlorene Einheit wiederherzustellen. Wer sich integrieren soll, muß sich freiwillig den Vorstellungen einpassen, anpassen und gleichschalten, denen jene Anerkennung verschaffen, die sie entwerfen und durchsetzen wollen. Einpassung und Angleichung, damit die Gleichheit der Lebensverhältnisse gewährleistet bleibt, ist keine liebenswürdige Zumutung, wie die substanzlose Integration suggerieren möchte.

So geht es mit vielen der neuen, artifiziellen Latinismen. Eine Sprache, die strenge Begrifflichkeit ermöglicht, als Rechts, Theologen- und Philosophensprache, wird vorzugsweise dafür verwandt, um gerade nicht beim Wort genommen zu werden.

Pluralismus meint Vielfalt von Meinungen. Aber der wahre Pluralist gewährt keine Toleranz den Meinungen, die sich zu weit von seinen entfernten. Er kann nicht dulden, daß andere etwa an einem Pluralismus zweifeln, der auf wehrhafte Demokraten angewiesen ist, die darüber wachen, ob auch alle wahrhafte Demokraten sind! Der Pluralismus wird darüber eine Kraft, die Homogenisierung meint: Jeder darf tun und denken, was der Pluralist ihm zu tun und zu denken erlaubt. Insofern ist es angebracht, lieber Worte zu gebrauchen, die solche Absichten verbergen, und überhaupt mit unbestimmter, großtönender  Phraseologie die Umgangssprache und damit das Denken zu kontrollieren.

Wissenschaft wird wie das Orakel in Delphi verehrt

Die Wissenschaftler flüchten ausgerechnet in demokratischen Zeiten bewußt in möglichst unverständliche Wendungen, um die Wissenschaft möglichst unzugänglich zu machen. „Die Wissenschaft“ hat ja mittlerweile das Wort Gottes ersetzt. Sie hat im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der Gesundheit und der Ernährung nahezu prophetische Kraft gewonnen. Wer daran zweifelt, ob es die Wissenschaft überhaupt gibt, und vermutet, daß verschiedene Wissenschaftler mit ihren Hypothesen darum werben, anerkannt zu werden, macht sich als Häretiker und Ungläubiger verdächtig. Die Wissenschaft wird wie das Orakel in Delphi verehrt, dessen dunkle Sprüche eben wegen ihrer Unklarheit Ehrfurcht erweckten. Überhaupt fordern Wissenschaftler Respekt vor ihrer Autorität, nicht zuletzt, weil sie ja jede Autoritätsgläubigkeit als irrational entlarven und jedem zur Mündigkeit und Selbstbestimmung verhelfen möchten, indem er sich eben wissenschaftlich von Wissenschaftlern aufklären läßt.

Sie haben mittlerweile kaum noch Latein gelernt, ihre Leser ebensowenig. Insofern können sich Historiker und Philologen, Politologen und Soziologen willkürlicher Latinismen bedienen wie geheimnisvoller Urworte, um sich Respekt zu erhalten. Die Banalität ihrer mangelnden Begrifflichkeit umgibt mit dem Schimmer des Erhabenen lateinische Lautmalerei: Die „Temporalität des Politischen“ lenkt von der Trivialität ab, daß alles Politische der Zeit, dem Augenblick verhaftet ist. Diskussion ist ein Gespräch, miteinander zu reden etwas schrecklich Alltägliches, aber in einen diskursiven Prozeß zu treten und den performativ zu strukturieren, das verleiht dem Alltäglichen besondere Würde und Weihen. Seinen Ausgangspunkt nahm dieser Unfug in den USA. Dort sollten die Wissenschaften demokratisch enthusiasmieren, also möglichst allgemeinverständlich sein, aber nicht so leicht eingängig, daß die tüchtigen Geistesdemokraten die Ehrfurcht vor den Gelehrten und ihrem prophetischen Geraune verlieren würden.

Mit Pathos die Gedankenarmut verzieren

Die USA verstehen sich als die leuchtende Stadt auf dem Berge, die allen voranleuchtet. Auch Politiker reden mit prophetischen, biblischen Donnerworten. Die englische Sprache enthält einen ungemeinen Reichtum lateinischer Wendungen. Da pragmatische Briten ungern philosophisch konsequent, aber immer moralisch hoch gerüstet argumentierten, lag es für US-Amerikaner nahe, auf lateinische Erinnerungen zurückzugreifen, um bei dürftiger Begrifflichkeit wenigstens mit Pathos die Gedankenarmut feierlich zu verzieren.

Das englische Latein oder lateinische Englisch wurde über die amerikanische Verwertung und mit Hilfe des basic american als „globish“ zu einem weltweiten Kommunikationsmittel, verbreitet von all denen, die Amerikanisch als bequeme Wissenschaftssprache überall propagieren und damit die herkömmlichen Wissenschafts- und Kultursprachen als regionale Dialekte in den Hintergrund drängen. In „globish“ braucht keiner scharfsinnig zu sein, er muß nicht mehr die Subtilitäten griechischer oder deutscher Philosophen beherrschen, um mitreden zu können. Es genügt Stimmungen aufzugreifen, sie zu schmücken und attraktiv wirken zu lassen. Begriffe können dabei weltweit nur stören. 

Wissenschaftler und Politiker drücken sich wie Wagners Rheintöchter in einem ursprachlichen Lallen aus, jetzt in latinisiertem Gestammel, das in der Einen Welt mit dem Einen Menschen als Einheitssprache anerkannt wird. Der Heilige Geist, der nicht den Menschen, sondern die Menschen in ihrer Verschiedenheit und Eigenart erreichen wollte, sprach zu Pfingsten in vielen Zungen. Sein Geist blieb für alle der gleiche in ganz eigentümlichen Sonderformen. Aus dem geistigen Pluriversum wurde ein geistloser Universalismus, in dem die Sprachlosigkeit die Führung übernimmt.