© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Es wird sehr eng werden
In zwei Generationen werden elf Milliarden Menschen die Erde bevölkern / Verteilungskämpfe um Ressourcen sind die Folge
Manfred Vasold

Die Weltbevölkerung wächst rasant, sie hat sich seit 1945 mehr als verdreifacht, die afrikanische sogar verfünffacht. Lebten zur Zeit von Christi Geburt vielleicht 250 Millionen Menschen auf der Erde, so waren es 1.500 Jahre später doppelt so viele, eine halbe Milliarde. Gut dreihundert Jahre später, um das Jahr 1820, war es erstmals eine Milliarde. Es dauerte dann mehr als hundert Jahre, bis es zwei Milliarden waren, um 1930. Wiederum dreißig Jahre später, um 1960, waren es drei, 1975 vier, 1987 fünf, im Jahr 2000 gut sechs, 2012 sieben und heute, 2019, etwa 7,7 Milliarden Erdenbürger. In drei, vier Jahren werden wohl acht Milliarden Menschen diese Erde bevölkern, weitere vierzehn Jahre später vielleicht neun. Es ist richtig, daß die Weltbevölkerung heute – relativ und absolut – langsamer wächst als noch vor einigen Jahrzehnten; aber sie wächst weiter, mit rund 75 Millionen pro Jahr.

US-amerikanische Wissenschaftler bezeichnen ein solches Populationswachstum gern als „S-förmig“, denn es gleicht einem sanft geschwungenen S: Anfangs erfolgt ein äußerst langsamer Anstieg der Kurve von links nach rechts, dann geht es ein langes Stück steil nach oben, danach wendet sich die Kurve wieder nach rechts und flacht ab. Wir haben diesen Übergang von „senkrecht“ zu „leicht ansteigend“ bereits hinter uns, das Wachstum geht jetzt langsamer weiter. Von der Verdoppelung der ersten (um 1820) zur zweiten Milliarde (1930) vergingen noch gut hundert Jahre. Von der dritten (1960) zur sechsten Milliarde (2000) gerade einmal knapp vierzig.

Einem bedeutenden Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts wird das große Wort zugeschrieben, das wahre Verdienst gebühre demjenigen, der dort, wo bisher eine Getreideähre wuchs, fortan zwei Ähren wachsen läßt. Ja, und dann? Aber aus einem Esser werden sehr schnell zwei, daraus bald drei und vier und noch mehr. Indiens „grüne Revolution“, die mehr Reis für mehr Menschen bringen sollte, ist der beste Beweis dafür, daß dies auf lange Sicht keine Lösung ist. 

Boom ging auf geringere Kindersterblichkeit zurück

Eine Folge des rasanten Bevölkerungswachstums ist der Hunger. In den meisten Regionen der Erde hat die absolute Anzahl der Hungernden zwischen 1990/92 und 2015 zwar abgenommen, heißt es; doch im Afrika südlich der Sahara ist ihre Zahl zuletzt noch einmal gestiegen. Afrika kann sich immer weniger selbst ernähren. Rasches Bevölkerungswachstum hat auch noch andere Folgen: Für die jungen Staaten Afrikas und Asiens ist es schwierig, bei rasch wachsender Bevölkerung Reformen durchzuführen. 

Was sind die Ursachen dieser Bevölkerungsexplosion? Dank einer besseren Versorgung mit Nahrungsmitteln, den Segnungen der modernen Medizin und der Industrialisierung hat sich die Lebenserwartung in Mitteleuropa seit 1880 mehr als verdoppelt. Auch die Lebenserwartung der Weltbevölkerung ist gestiegen, sie liegt heute bei 72 Jahren (beide Geschlechter zusammen). Sie nahm in den Schwellenländern übrigens schneller zu als in den Industriestaaten. 

In der fernen Vergangenheit, auch in Europa, war die Mortalität fast ebenso hoch wie die Natalität, folglich wuchs die Bevölkerung sehr langsam. Doch in den letzten Jahrzehnten ist die Sterblichkeit stark gefallen, die Gebürtlichkeit blieb hoch, folglich kam es zu raschem Wachstum. Die höchsten Bevölkerungs-Zuwachsraten, um die drei Prozent, weisen heute einige afrikanische Länder auf. 

Die Sterblichkeit hat abgenommen, die Zahl der Menschen wächst. Die nachlassende Sterblichkeit hat die Lebenserwartung südlich der Sahara zwischen 1950 und 1990 von 39 auf 52 Jahre ansteigen lassen, die Sterblichkeit fiel (1965 bis 1990) von 23 auf 16 Promille. Schon zwischen 1920 und den späten 40er Jahren wuchs die afrikanische Bevölkerung von 142 auf 200 Millionen an. 

Lebewesen haben den Wunsch, sich fortzupflanzen. Kinder, so dachte man in Afrika lange Zeit, würden eines Tages die Eltern im Alter versorgen. Aber dazu bedurfte es vieler Kinder, denn etliche Nachkommen segneten bald das Zeitliche. In der Vergangenheit wurde eine Vielzahl von etwaigen Nachkommen in früher Jugend wieder dahingerafft; man mußte also viele Nachkommen in die Welt setzen, damit wenigstens einige von ihnen die Säuglings- und Kinderjahre überlebten. Heute überleben von den vielen Kindern – sehr viele. Darüber hinaus galt es in einigen Kulturen als Beweis von Manneskraft, möglichst viele Nachkommen zu zeugen. 

Ägypten wird 2050 fast 150 Millionen Einwohner haben

Die moderne Heilkunst trifft eine nicht geringe Schuld an der Bevölkerungsentwicklung. Afrika nahm vor allem in den Jahren nach 1960 sehr stark an den Segnungen der westlichen Medizin teil. Nehmen wir eine hochansteckende Infektionskrankheit wie die Pocken, die lange Zeit auch in Europa wüteten. Sie waren eine nicht selten tödlich verlaufende Seuche – der letzte Pockenfall ereignete sich bezeichnenderweise 1977 in Ostafrika. Inzwischen sind die Pocken dank der Impfungen besiegt. Auch die Geschlechtskrankheiten, die Afrika lange Zeit heimsuchten, wurden weltweit zurückgedrängt; selbst Aids verläuft heute viel seltener tödlich.

Nigeria ist heute das bevölkerungsreichste Land in Afrika. Vor hundert Jahren zählte es nicht einmal zwanzig Millionen Menschen, heute sind es zehnmal soviel. Ganz ähnlich Ägypten, das Land am Nil hat heute fast hundert Millionen Einwohner. Seine sehr junge Bevölkerung wird sich rasch vermehren. Man rechnet damit, daß Ägypten im Jahr 2050 an die hundertfünfzig Millionen Menschen zählen wird. 

Neueren demographischen Prognosen zufolge könnte sich die afrikanische Bevölkerung bis zum Jahr 2050 noch einmal verdoppeln, von derzeit gut 1,2 auf 2,4 Milliarden Menschen. Viele Sozialforscher behaupten, die Lebensumstände in Afrika seien bereits heute unerträglich; aus diesem Grund seien auch so viele Afrikaner bereit, unter Gefahr für Leib und Leben über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Was werden die Afrikaner tun, wenn sich ihre Zahl noch einmal verdoppelt hat? Was haben die Europäer zur Zeit des schnellsten Wachstums im 19. Jahrhundert (bis 1913) gemacht? Annähernd sechzig Millionen von ihnen sind ausgewandert. 

Oder nehmen wir Indien. Als das Land 1947/48 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, zählte seine Bevölkerung um die 400 Millionen. Heute sind es mehr als dreimal so viele. Und die Bevölkerungen dieser Schwellenländer sind jung, sie zeugen wieder viele Nachkommen. Die Inder leben dichter zusammen als die Deutschen, und dabei leben in Indien auch noch viele wilde Tiere und beanspruchen Bewegungsraum.

Thomas Malthus hat 1798 in einem berühmten Essay prognostiziert, daß die Bevölkerung geometrisch wächst (1, 2, 4, 8 usw.), während die Nahrungsmittel nur arithmetisch zunehmen (1, 2, 3, 4 usw.). Strenggenommen hat Malthus sich mit seiner Prognose geirrt. Das bedeutet aber zugleich: Die Zahl der Hungrigen wächst viel schneller als die Menge an Nahrungsmitteln. Aber Malthus wußte eben noch nichts von Kunstdünger und all den anderen Fortschritten der modernen Landwirtschaft, von Industrialisierung, also von Faktoren, die die Tragfähigkeit der Erde stark erhöht haben. 

Prognosen sind heute viel exakter, gerade mit Blick auf Bevölkerungswachstum, das Regeln folgt. Man kann sich schwer vorstellen, was geschehen müßte, damit das von Demographen vorhergesagte Wachstum der Weltbevölkerung in Zukunft nicht eintreten wird. Die von US-Präsident Jimmy Carter angeregte Studie „Global 2000“ prognostizierte 1980 für das Jahr 2000 eine Weltbevölkerung von 6,35 Milliarden Menschen plus/minus 200 Millionen, und diese Prognose, in ihrer reduzierten Form, hat sich als zutreffend erwiesen. 

Die Erde kann sehr viel mehr Menschen ernähren

Wie haben andere Nationen in der Vergangenheit derartige Bevölkerungskrisen gemeistert? Deutschlands Bevölkerung hat sich im 19. Jahrhundert gewaltig vermehrt, sie stieg von zweiundzwanzig Millionen 1815 auf über sechzig Millionen 1914. Viele Deutsche wanderten im 19. Jahrhundert aus. Dabei wurden hierzulande die Lebensumstände gerade um diese Zeit rasch besser. 

Aus gutem Grunde ist heute die Erd-erwärmung ein Thema. Auch sie hängt zum Teil mit der Größe der Erdbevölkerung zusammen, produziert doch jeder Erdbürger täglich einige hundert Gramm CO2, die Bewohner der Industrieländer sogar sehr viel mehr. Mehr Menschen bedeuten zugleich mehr Wärme; mit weniger Erdbewohnern wäre dieser Ausstoß wohl geringer. Mehr Menschen, das bedeutet auch weniger Wälder – wir sehen dies heute am Amazonas. Dabei brauchen wir diese Wälder.

Kriege und Seuchen haben das Bevölkerungswachstum meist nur für kurze Zeit am Wachsen behindert, danach ging es weiter wie zuvor. Vietnam hatte 1913 rund 17 Millionen Einwohner, heute hat es fünfmal soviel, weit mehr als 90 Millionen. Die Philippinen, die nach 1898 von den Vereinigten Staaten wie eine Kolonie beherrscht wurden, hatten 1918 knapp elf Millionen Einwohner, heute sind es 106 Millionen.

Was tun? Viele Demographen meinen, ein weiterer Bevölkerungsanstieg mit den entsprechenden Folgen sei unabwendbar. Andere, optimistischere, versichern uns, daß die Erde sehr viel mehr Menschen ernähren könne, es sei nicht ein Problem der Produktion, sondern der Verteilung. Von den derzeit 7,6 Milliarden Erdbewohnern müssen viele hungern; aber eine größere Anzahl lasse sich ernähren. Erstaunlich! 

Metropolen mit vierzig oder fünfzig Millionen Einwohnern bereiten so manch einem optimistischen Stadtexperten kein Kopfzerbrechen. Den Wohnraum kann man für sie vielleicht schaffen; aber Lebewesen brauchen nicht nur Wohnung, Kleidung  und Nahrung, sondern auch sauberes Wasser, reine Luft und viel freien Raum. Und gerade in dieser Hinsicht wird es sehr eng werden.






Dr. Manfred Vasold ist Historiker und publiziert über sozial- und medizinhistorische Themen u. a. in der FAZ und Die Zeit.