© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Die Sorge um das Wohl der Proletarier
Vor 150 Jahren: In Eisenach wird die erste deutsche Arbeiterpartei mit marxistischer Ausrichtung gegründet
Jürgen W. Schmidt

Heutzutage hat die SPD Karl Marx längst vergessen und weiß sogar mit ihrem Gründungsvater August Bebel kaum noch etwas anzufangen. Längst ist die die Sorge der SPD um den deutschen Proletarier, um den sprichwörtlichen „kleinen Mann“, in den Hintergrund getreten und man kämpft viel lieber für Europa, Genderquoten und eine endlose Massenmigration nach Deutschland. Verzweifelt versucht man aktuell auf der Umweltschiene gegen die Grünen zu punkten und in pazifistischen Anwandlungen die Linkspartei links zu überholen, um ja nicht dauerhaft unter die 15-Prozent-Marke bei den Wählerstimmen zu fallen. Diese Misere hat sich die einstige stolze Arbeiterpartei allerdings selbst eingebrockt. In der Funktionärs- und Bürokratenpartei SPD findet man kaum noch echte Arbeiter.

Dabei stand an der Wurzel der SPD-Gründung einst die Sorge um das materielle und geistige Wohl der hart gebeutelten deutschen Proletarier im Frühkapitalismus. Die ersten Arbeiter-assoziationen strebten daher Mitte des 19. Jahrhunderts Ziele an, welche man „gewerkschaftlich“ nennen konnte, und sie umfaßten das Streben nach Lohnerhöhungen, besseren Arbeitsbedingungen, Verkürzung der Arbeitszeit und besserer sozialer Absicherung.

Einen wenn auch anfangs massenwirksamen Irrweg beschritt hierbei Ferdinand Lassalle, ein Breslauer Rechtsanwalt. Er glaubte an das sogenannte „eherne Lohngesetz“, daß nämlich der Preis der Arbeit, Lohn genannt, bevölkerungstheoretisch begründet sei. Die Lohnhöhe ergebe sich aus dem Satz, den das Volk zu seiner natürlichen Reproduktion „gewohnheitsmäßig“ benötige. Folglich war für Lassalle der Kampf um gravierende Lohnerhöhungen sinnlos, und die Proletarier sollten sich auf den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung beschränken. 

Seine Organisation für derartige Bestrebungen, der 1863 in Leipzig gegründete ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein), stellte seinerzeit eine bedeutende Kraft dar und stand unter Lassalle und dessen Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer in strenger Opposition zur marxistischen Bewegung. 

Marxistisches Gegengewicht zur Initiative Lassalles

Durch Zusammenarbeit mit der preußischen Regierung glaubte man mittels staatlich geförderter Bildung von Produktionsgenossenschaften das sich selbst gesteckte Ziel am besten zu verwirklichen. Weil diese Bestrebungen weder revolutionär noch international ausgerichtet waren, sahen Marx und Engels sowie deren deutscher Emissär Wilhelm Liebknecht scheel auf die Bestrebungen des ADAV. Mit Hilfe von flexibler Bündnistaktik, selbst wenn man anfangs bei einigen politischen Forderungen zurückstecken mußte, versuchte man den Masseneinfluß des ADAV auf die deutsche Arbeiterschaft zu bekämpfen, indem man selbst eine proletarische Massenpartei begründete und in deren Programm politische mit rein gewerkschaftlichen Forderungen geschickt vermengte. 

Es gelang, vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach, gelegen im thüringischen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eise-nach, mehrere bereits bestehende kleine Arbeiterorganisationen an einen Tisch zu bringen. Von marxistischer Seite nahm am später als „Eisenacher Kongreß“ bezeichneten Vereinigungsparteitag von 1869 die 1866 gegründete Sächsische Volkspartei teil. Diese kleine Partei wies radikaldemokratische bis sozialistische Ansätze auf, hatte ihren Schwerpunkt im mitteldeutschen Raum und verfügte über nur drei Abgeordnete im Norddeutschen Reichstag. 

Dem von Marx und Engels gesteuerten und inspirierten Akademiker Wilhelm Liebknecht stand als weiterer Parteiführer der wortgewaltige Vorzeigeproletarier August Bebel zur Seite. Um den gefährlichen Masseneinfluß des ADAV zu bekämpfen, holten sich die sächsischen Volksparteiler den zum ADAV in scharfer Konkurrenz stehenden Vereinstag Deutscher Arbeitervereine mit ins Boot. Das war die Dachorganisation einiger gewerkschaftlicher Verbände, welche aufgrund ihrer „großdeutschen“ politischen Ausrichtung und ihrer abweichenden Zielstellung in der Lohnfrage in schärfster Konkurrenz zu dem auf „Kleindeutschland“, auf Preußen und das „eherne Lohngesetz“ eingeschworenen ADAV stand. 

Um den ADAV zusätzlich zu schwächen, waren einige zu Lassalle beziehungsweise von Schweitzer in Opposition stehende Absplitterungen des ADAV nach Eisenach eingeladen worden. Solcherart ganz heterogen zusammengesetzt, gerieten die am 7. August 1869 im Eisenacher Gasthaus „Goldener Löwe“ tagenden Delegierten, welche insgesamt etwa 15.000 Arbeiter vertraten, sich erst einmal kräftig in die Haare. Der Versammlungstag endete nahezu im Chaos. 

Erst 1875 verschmolz die Partei in Gotha zur SPD

Am entscheidenden zweiten Versammlungstag traf man sich im Eisenacher Gasthof „Zum Mohren“ und hier setzten Liebknecht und Bebel endlich die Gründung einer gesamtdeutschen proletarischen Massenpartei mit leicht marxistischer Ausrichtung durch, welche den Namen Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) erhielt. 1875 gelang es dieser beständig stärker werdenden Partei, auf dem Vereinigungsparteitag von Gotha 1875 den stark geschwächten Dauerkonkurrenten ADAV zu schlucken und zur Massenpartei SPD zu werden, die vor 1914 als stärkste sozialdemokratische Partei Europas galt. Allerdings mußten Wilhelm Liebknecht und August Bebel, welche die Gründung der SDAP am 8. August 1869 in Eisenach betrieben, vorerst einige Kröten schlucken und politische Zugeständnisse an ihre künftigen Mitgenossen machen. 

Im „Eisenacher Programm“ von 1869 wurde beispielsweise nicht eine künftige sozialistische Republik als Endziel genannt, sondern die „Errichtung eines freien Volksstaates“. Auch wurden genossenschaftliche Produktivverhältnisse als erstrebenswert verkündet, um dem Konkurrenten ADAV die Anhänger zu entziehen. Dafür gelang es, die internationale Orientierung der SDAP durchzusetzen, weil man schließlich die arbeiterfreundlichen Produktionsverhältnisse nicht lokal oder nur rein national durchsetzen könne. 

Interessant ist übrigens, daß Bebel in Eisenach daran scheiterte, das Frauenwahlrecht als politisches Ziel ins Programm zu schreiben. Mehr als die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht für Männer über 20 Jahre konnte er nicht durchsetzen. Doch immerhin profilierte sich die SDAP als unmittelbare Vorgängerin der späteren Millionenpartei SPD durch eine geschickte Mischung von marxistischen Fernzielen und praktischen Nutzen versprechenden Nahzielen wie der Trennung von Kirche und Staat, dem unentgeltlichen Unterricht und der Begrenzung der täglichen Arbeitszeiten, welche als Forderungen im Programm der neuen Partei enthalten waren, um das Los der Arbeiterschaft zu verbessern, die zu diesem Zeitpunkt seit gut einer Generation die durch die Industrialisierung stark wachsenden deutschen Städte bevölkerten. 

Vielleicht sollten die SPD-Genossen um Stegner, Kühnert oder Barley einmal bei Vater Bebel nachlesen, was eine Massenpartei ausmachen kann?