© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Auf dem Weg zu einer markanten Zäsur
Der Philosoph Anders Indset überträgt eine in der Quantentheorie erfolgreiche Idee in die Wirtschaft
Felix Dirsch

Digitalisierung ist schon seit einiger Zeit in aller Munde. Auf einen kurzen Nenner gebracht, versteht man darunter, die Welt mittels Nullen und Einsen in einen Riesencomputer zu überführen. Das Leben wird Teil eines Datennetzwerkes. Der Transformationsprozeß in vielen Bereichen von Staat und Wirtschaft ist längst angelaufen, auch wenn die Auswirkungen alles andere als überschaubar sind. Manche (wie die Publizistin Yvonne Hofstetter) sehen am Ende dieser Wandlungen die Herrschaft der Maschine über den Menschen.

Was aber kommt nach dieser Schwelle und wie kann ihr begegnet werden? Der weltweit rezipierte Wirtschaftsphilosoph Anders Indset hat sich darüber Gedanken gemacht. Diese kommen nicht ohne einen gewissen utopischen Überschuß aus, was nicht ganz unverständlich ist, wird doch das herkömmliche ökonomische Paradigma einer gründlichen Prüfung unterzogen. Konkurrenzwirtschaft und Konsumismus, die für kapitalistische Systeme zentral sind, haben bei idealistischen Theoretikern auch im frühen 21. Jahrhundert keinen guten Ruf.

Zwischen Entweder-Oder und Sowohl-Als-auch

Indset möchte einige grundlegende Annahmen, die für Quanten- und Relativitätstheorie gelten, in ein neuartiges ökonomisches Modell übertragen. Aus der Äquivalenz von Materie und Energie folgert der Norweger die Überwindung der althergebrachten Gegensätze von Materialität und Immaterialität sowie von Spiritualität und Physikalismus. Das Komplementaritätsprinzip eines Sowohl-Als-auch, etwa von Welle und Teilchen, dominiert über den Grundsatz des Entweder-Oder als eine Art wirtschaftlicher Basisformel. Traditionell bedeutet die vorherrschende Konkurrenzwirtschaft aufgrund knapper Güter: Was der eine hat, besitzt der andere nicht. Indsets Wunschbild einer postmateriellen und ganzheitlichen Ökonomie ist die „Quantenwirtschaft“.

Ein wesentlicher Einwand gegen eine bloß materialistisch-konsumistische Einstellung besteht seit jeher nicht nur in einem bestimmten Gerechtigkeitsideal, welches zu große soziale Unterschiede ablehnt; vielmehr stehen im Hintergrund auch ökologische Vorstellungen und nicht zuletzt solche vom Glücksempfinden. Die Anhäufung immer größerer Reichtümer fördert oftmals mehr die Abhängigkeit von ihnen als das Gefühl eines gelungenen Lebensentwurfes.

Die Brücke von der quantentheoretischen Quintessenz zum holistischen Weltbild zu schlagen ist mit Einschränkungen möglich: Alles steht mit allem in Beziehung, so jedenfalls eine populäre Interpretation. Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft zeichnen sich in diesem Entwurf durch enge wechselseitige Bezüge aus.

Diese Gedanken sind nicht neu, aber auf wissenschaftlicher Basis wirken sie oft trivial. Ihre Attraktivität bleibt jedoch bis heute bestehen, wie auch Indsets Schrift belegt. In den 1980er Jahren, vor dem Hintergrund einer weithin spürbaren Begeisterung über schwer definierbare New-Age-Erscheinungen, war überall die Rede von Konvergenzen zwischen westlicher Physik und östlicher Mystik. Besonders der österreichische Physiker Fritjof Capra betätigte sich im Sinne einer Popularisierung derartiger systemisch-ganzheitlicher Ansätze. Auch das in dieser Dekade deutlich gestiegene Umweltbewußtsein half bei der Verbreitung neuer Synthesen und Emergenzen. Das Totum galt wieder mehr als die Summe der Einzelteile. Jedoch kamen solche euphorischen Vorstellungen bald wieder aus der Mode.

Wie kann man der Omnipotenz der Algorithmen entgehen, deren Macht die des Menschen zu übertreffen droht? Ind­set geht auch auf diese neuen Bedrohungen ein, aber nur sehr allgemein: Es sollen keine KI-Maschinen erbaut werden, die den Fortbestand der Zivilisation verändern. Man hätte mehr erwartet als den Hinweis, eine nachträgliche Korrektur etwaiger Fehlentwicklung sei zu vermeiden. Hier zeigt sich eine unterkomplexe Zugangsweise, die auch an anderen Stellen deutlich wird.

Werden die Algorithmen die vierte große Kränkung?

Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus? Ja, wir müßten kreativer werden. Das ist Indsets Meinung. Kunst soll unter diesem Gesichtspunkt eine neue Relevanz im Leben der Menschen erhalten. Vielleicht wird jeder Mensch ein Künstler und die alte Beuyssche Hoffnung in die Tat umgesetzt. Die Frage ist allerdings, ob solche Anspielungen für die breite Mehrheit der Bevölkerung relevant sind.

Realistischer ist jedoch, daß die vierte große Kränkung des Menschen (nach Kopernikus, Darwin und Freud), der absehbare Sieg der Algorithmen über ihre Schöpfer, eine Zäsur in der Weltgeschichte darstellt, die ihresgleichen sucht – mehr noch als die Geburt des Monotheismus und der Beginn der Industrialisierung. Beide Schwellen beließen den Menschen als primär überlegenes Subjekt in der Welt, das keiner Macht untergeordnet war außer Mitgliedern der eigenen Spezies. Diese Phase endet erst in unserer Zeit langsam, aber sicher.

Indset liefert eindrucksvolle Beispiele für diese These. So berichtet er unter anderem von der sukzessiven Verschmelzung von künstlicher Intelligenz (KI)und Biotechnologie. Organismen werden mehr und mehr mit digitalen Applikationen verbunden. Dazu zählt die Verbindung des menschlichen Gehirns mit einem Computer, was einigen gelähmten Fachleuten die Möglichkeit gab, ihren Beruf trotz schwerer Erkrankung wenigstens zum Teil weiter auszuüben.

Jedoch ist die Menschheit trotz dieser für sie ernsten Entwicklungen noch nicht verloren. Des Menschen Vorteil ist seine Vielfältigkeit, die rationale Fähigkeiten und emotionale Ausrichtung unentwirrbar miteinander verknüpft. Wenn ein Wirtschaftsnobelpreisträger wie Daniel Kahneman alte Rationalitätsannahmen, wie sie bei vielen Klassikern der Disziplin durchscheinen, zum Einsturz bringt, muß dies niemanden um das Schicksal der eigenen Gattung besorgt machen. Deren Mitglieder stehen über den selbstgesetzten Maximal­anforderungen und können sie leicht überschreiten. Auch in der Vergangenheit ließen sich Probleme lösen, die viele Zeitgenossen ursprünglich für unlösbar gehalten hatten, etwa die Schaffung eines dauerhaften Friedens in den meisten Teilen Europas, aber auch die weitgehende Ausmerzung des Hungers zumindest in den reicheren Ländern. Es wird sich zeigen, ob Gefühlsalgorithmen und Nanobots das Leben der Mehrzahl erschweren oder erleichtern werden. Wenn sich die zuerst genannte Alternative abzeichnet, wird es wohl Versuche der Gegensteuerung geben.

Der Titel des Buches ist vielleicht etwas zu hochtrabend. Die Quantentheorie beschreibt Phänomene der subatomaren Welt, die Ökonomie hingegen ist den Gesetzen der alltäglichen Wirklichkeit verpflichtet. Folglich sind Analogieschlüsse nur bis zu einem gewissen Grad sinnvoll und möglich. Indsets Darstellung ist im Großen und Ganzen eine Kulturkritik, die um des Überlebens willen grundlegende Änderungen für die Zukunft anstrebt. Fraglich ist, ob Transformationsprozesse solcher Größenordnungen nicht überfordern. In welche Richtung soll es gehen und wer soll den Weg weisen? Wie kann ein wenigstens relativer Konsens erreicht werden?

Konzeptionen wie diejenige Indsets kommen nicht ohne eine Überzeichnung von als positiv erkannten Gegenwarts- und Zukunftstendenzen aus. Eine neue Aufklärung zu postulieren ist leicht. Wie soll sie aber aussehen? Ein paar Andeutungen reichen dazu leider nicht aus. Allen Einwänden zum Trotz: Indset ist ein Gelehrter, der etwas zu sagen hat. Die Auseinandersetzung mit ihm lohnt.

Anders Indset: Quantenwirtschaft. Was kommt nach der Digitalisierung? Econ Verlag, Berlin 2019, gebunden, 336 Seiten, 22 Euro