© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Bis zur finalen Systemkrise
Negativzinsen und Umverteilung sind Überlebensbedingung für das mißlungene Euro-Experiment
Bruno Bandulet

Kann man sich an das Leben in einer surrealen Welt gewöhnen und früher unvorstellbare Zustände für die neue Normalität halten? Man kann, besonders wenn die Mißstände von den Regierenden beschwiegen oder beschönigt oder für alternativlos erklärt werden.

So blieb auch der längst überfällige Aufschrei aus, als zum Ende der vergangenen Woche die Rendite selbst der 30jährigen Bundesanleihen in die Verlustzone rutschte, nämlich auf minus 0,06 Prozent. Das bedeutet, daß Geld verliert, wer sie jetzt kauft und nicht rechtzeitig bei noch höheren Kursen abstößt. Die Rede ist von negativen Zinsen, ein seltsamer Begriff – so als ob sich der Tod als negatives Leben bezeichnen ließe.

Surreal ist die Welt der Negativzinsen, weil so etwas in der 4.000 Jahre alten Zinsgeschichte noch nie vorkam. Unter normalen Umständen wird niemand Geld zinslos und mit Verlustgarantie verleihen. Denn er will für seinen gegenwärtigen Konsumverzicht, für Geldentwertung und für das Risiko des Zahlungsausfalls kompensiert werden. Der natürliche Zins, der sich daraus ergibt, kann nie negativ sein. Wohl aber ein von einem Monopolisten manipulierter und damit künstlicher Zins. Die Schuldigen sitzen in der Europäischen Zentralbank (EZB), die unter der Führung von Mario Draghi eine beispiellose, durch nichts legitimierte Macht an sich gerissen hat.

Als der Euro 1999 als Buchgeld eingeführt wurde, kassierten deutsche Sparer um die vier Prozent Realzinsen, das heißt nach Berücksichtigung der Geldentwertung. Danach ging es mit Unterbrechungen im Trend abwärts bis auf nahezu minus zwei Prozent (bei Nullzinsen und einer Inflation in Höhe von 1,9 Prozent im vergangenen Jahr). Die Sparer werden planmäßig enteignet beziehungsweise mit einer Steuer belegt, die nicht so heißt und die zwecks Eurorettung seit Jahren erhoben wird.

Wieviel die Sparer bisher verloren haben, hängt von der Art der Berechnung ab. Dazu müßte man wissen, wo der natürliche Zins gelegen hätte, gäbe es den Euro und die EZB nicht. 2018 wären es 3,3 Prozent gewesen, wenn sich das Zinsniveau am nominalen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) orientiert hätte. Nach einer Berechnung der DZ-Bank werden die privaten Haushalte im laufenden Jahr Zinseinbußen von 358 Milliarden Euro hinnehmen müssen – bezogen auf ein gesamtes Geldvermögen in Höhe von 4,8 Billionen Euro, wobei Bankeinlagen, Anleihen und Versicherungen berücksichtigt sind.

Nichts deutet darauf hin, daß die EZB ihren Kurs ändern könnte. Sie hat den wichtigsten Preis in einer Volkswirtschaft, den Zins, abgeschafft und wird weiterhin Geld austeilen, damit der Euro überlebt und die Staatsschulden der Süd­europäer bedient werden können. In Italien stagnieren diese seit 2013 bei 132 Prozent des BIP, in Frankreich haben sie sich in den vergangenen zehn Jahren auf knapp 100 Prozent verdoppelt. Die EZB hat die von Ludwig Erhard und der Deutschen Bundesbank begründete Geldkultur rückstandslos beerdigt. Wenn Mario Draghi Ende Oktober nach acht Jahren als Präsident der EZB abtritt, wird er die Zinsen kein einziges Mal erhöht haben. Er hat sie immer nur gesenkt, und für die Überschuß-Gelder, die die Banken in der Regel bei der EZB parken, hat er schon im Juni 2014 einen Negativzins eingeführt. Der wurde dann schrittweise von zunächst minus 0,1 Prozent auf zuletzt minus 0,4 Prozent abgesenkt. Überdurchschnittlich litten die ohnehin notleidenden deutschen Banken unter den Strafzinsen. 2018 mußten sie 7,5 Milliarden Euro an die EZB abführen. Das waren 9,1 Prozent ihres Vorsteuergewinns und damit mehr als das Doppelte der Belastung in der gesamten Eurozone. Verständlich also, daß die Banken hierzulande unter Druck stehen, die EZB-Strafzinsen nach und nach an ihre Kunden weiterzugeben. Bisher sind davon nur Großanleger, Versicherungen, Unternehmen und Kommunen betroffen.

Kanzlerin Angela Merkel hat in diesem Frühsommer die Chance vertan, sich schützend vor die Sparer zu stellen. Sie rührte keinen Finger, um für Bundesbankpräsident Jens Weidmann als Draghi-Nachfolger zu werben. „Sie glaubt offenbar“, notierte der frühere Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart, „daß man dem deutschen Interesse am besten dadurch dient, daß man es nicht durchsetzt.“ Mehr noch, sie sah ungeniert zu, wie Draghi mit französischer Rückendeckung dafür sorgte, daß die EZB auf seinem Kurs bleibt, wenn er zum 1. November an Christine Lagarde übergibt. Er stellte eine noch laxere Geldpolitik in Aussicht. Und er verkündete, es gebe keine Obergrenze für die Inflation, und sie dürfe künftig auch über zwei Prozent liegen.

Alles deutet darauf hin, daß Draghi noch vor der Machtübergabe letzte Pflöcke einschlagen wird, um Lagarde die Arbeit abzunehmen und sie vor Kritik aus Deutschland abzuschirmen. Er kann das Limit für den Ankauf von Staatsanleihen, das bisher 33 Prozent der ausgegebenen Papiere betrug, heraufsetzen. Er kann die Summe der monatlichen Käufe erhöhen. Er könnte sogar den Banken noch höhere Strafzinsen aufdrücken, damit diese noch mehr Kredite an Zombie-Unternehmen und Zombie-Staaten ausreichen. Notenbanken, die so wirtschaften, produzieren Finanz- und Immobilienblasen, zerrütten die Wirtschaft und gewinnen doch nur Zeit bis zum Tag der unvermeidlichen finalen Systemkrise.

Die Deutschen werden sich noch wundern, wie hoch der für den Euro zu entrichtende Preis ausfallen wird. Gelddrucken, Nullzinsen, Umverteilung und Verarmung sind die Bedingungen seines Überlebens. Die Alternative bestünde darin, das mißlungene Experiment zu beenden.






Dr. Bruno Bandulet war Chef vom Dienst bei der Welt und ist Herausgeber des  „Deutschland-Briefs“ (erscheint in eigentümlich frei).