© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Der Getriebene
Es geht um die Wurst: Sachsens CDU-Chef Michael Kretschmer blickt im Wahlkampf auf die AfD wie das Kaninchen auf die Schlange
Paul Leonhard

Sachsens CDU-Chef Michael Kretschmer ist ein von der Alternative für Deutschland (AfD) Getriebener. Unstetig reist er quer durch den Freistaat, darauf bedacht, jeden Tag zumindest in einer Lokalzeitung oder einem Lokalsender eine positive Nachricht zu produzieren. Ob er dabei als Ministerpräsident oder als CDU-Wahlkämpfer unterwegs ist, läßt sich längst nicht mehr unterscheiden. Die wenigste Zeit dürfte der Christdemokrat bisher an seinem Schreibtisch in der Staatskanzlei verbracht haben.

„Zuhören, verstehen, anpacken“, heißt es auf den Wahlplakaten, die das Konterfei des vor 18 Monaten von einer Landtagsmehrheit gewählten Ministerpräsidenten zeigen. Der 44jährige verspricht im Wahlkampfmodus 1.000 neue Polizisten und will das „Handwerk stärken“. Auf seinen Veranstaltungen überall im Land ist er sich nicht zu schade, sich für die bisherige CDU-Politik zu entschuldigen und die Merkel-Regierung zu beschuldigen, sie würde mit Klimawandel und CO2-Steuer die Menschen verunsichern. „Die Wette, die Kretschmer eingegangen ist, lautet: Man kann den bösen Populismus mit einem guten Populismus bekämpfen“, spottet die Zeit. 

Es ist ein einsamer Wahlkampf, den der CDU-Spitzenkandidat führt. Er habe das Gefühl, „alle anderen gucken hinterher und warten, was der Kretschmer da macht und sonnen sich dann am 1. September oder finden dann einen Schuldigen und der heißt Kretschmer“, formulierte Rico Gebhardt, Landeschef der Linksfraktion, was viele denken.

Kretschmer blickt dabei auf die AfD wie das Kaninchen auf die Schlange. Welches Thema diese auch aufgreift, sofort ist der CDU-Mann da, um es von seinen Beratern – für die Wahlkampagne wurde eigens die Wiener Agentur „Campaigning Bureau“, die zuvor Sebastian Kurz zu seiner kurzen Kanzlerschaft in Österreich verholfen hatte, gewonnen  – auf Massentauglichkeit abklopfen zu lassen und bei Bedarf zu verwenden. Als beispielsweise die AfD ein Ende der Rußland-Sanktionen verlangte, forderte das Kretschmer nicht nur promt auch, sondern reiste sofort nach Sankt Petersburg, um sich mit Wladimir Putin persönlich zu treffen.

 Schwerer tut sich Kretschmer mit dem Mann auf der Straße. Der schlaksige Rothaarige ist weder ein Typ, der neugierig auf Menschen zugeht, noch jemand, der sich im Griff hat, wenn ihm Meinungen anderer nicht behagen. Zu erleben ist das beispielsweise, wenn er bei Podiumsdiskussionen auf AfD-Politiker trifft. Kretschmer müsse sich „entrüpeln“, hatte die Sächsische Zeitung einmal geraten. 

Kompliziert ist auch sein Umgang mit der Linken. In seiner früheren Heimatstadt Görlitz, in der er als Direktkandidat für den Wahlkreis Görlitz II antritt, hat er schon zweimal unter Beweis gestellt, daß es für ihn keine Distanz zu den SED-Nachfolgern gibt, wenn es so gelingt, ihm mißliebige Kandidaten zu verhindern. Vor sieben Jahren unterstützte er ein ehemaliges SED- und Kampfgruppenmitglied, damit ein abtrünniger CDU-Politiker nicht erneut Oberbürgermeister würde, im Juni konnte seine Partei dank Einheitsfront den AfD-Kandidaten Sebastian Wippel auf Platz zwei verweisen.

Am 1. September will es Kretschmer an der Neiße noch einmal wissen. Er will ein Direktmandat gewinnen. Und diesmal geht er auf Nummer Sicher. Verliert er erneut gegen die AfD, wie bei der Bundestagswahl, ist er mit Listenplatz eins abgesichert. Schließlich will er nicht als „tragische Figur“ in die Geschichte Sachsens eingehen, sondern gestalten. Der 1,5 Millionen Euro teure Wahlkampf der Sachsen-Union ist ganz auf den gebürtigen Görlitzer zugeschnitten, der als eine Art Heilsbringer für Sachsen, als „Biedenkopf 2.0“ präsentiert wird

 Am liebsten würde die CDU vergessen machen, daß sie nicht nur unter Kurt Biedenkopf Sachsen gestaltet hat, sondern auch danach unter Georg Milbradt und dem aus dem Amt geflüchteten Stanislaw Tillich. Die Sachsen-Union kann somit genauso für die gestiegene Kriminalität in vielen Deliktsbereichen verantwortlich gemacht werden, weil Polizeistellen eingespart wurden, wie für das verlorenene Heimatgefühl vieler Bürger, weil die Partei Gebietsreformen durchgepeitscht hat. Zudem hat ihre Arroganz und Ausgrenzung Pegida erst ermöglicht und eine Wählermehrheit der AfD zugeführt.

Im Wahlkampf versucht der frühere sächsische CDU-Generalsekretär (2005 bis 2017) den Eindruck zu vermitteln, als hätte all dies nichts mit ihm zu tun. Die Partei sei derzeit dabei, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und wieder Vertrauen aufzubauen. Das ist die offizielle Sprachregelung, die Kretschmer wie sein Nachfolger als CDU-Generalsekretär, Alexander Dierks, gebetsmühlenartig von sich geben, verbunden mit der Botschaft: „Wer Kretschmer als Ministerpräsidenten will, wer eine stabile Regierung will, der muß am 1. September CDU wählen.“

Minderheitsregierung als Plan B ins Spiel gebracht

„Stabil“ ist das Lieblingswort der CDU-Strategen. Da Kretschmer sowohl eine Zusammenarbeit mit Linken als auch der AfD ausgeschlossen hat und alle anderen Parteien wiederum eine Koalition mit der AfD, hängt es wohl vom Abschneiden der Liberalen ab, „ob wir auch in Zukunft mit stabilen Verhältnissen im Freistaat positiv Politik gestalten können“, wie CDU-General Dierks hofft. Natürlich gibt es jenseits einer Koalition aus CDU, Grünen, SPD und FDP längst einen Plan B, eine Minderheitsregierung. Entsprechendes hatte der Politologe Werner J. Patzelt, der das Wahlprogramm der sächsischen CDU federführend mitformulierte, ins Spiel gebracht. 

Für die Demokratie wäre das ein Meilenstein. In Sachsen würden dann Gesetze tatsächlich diskutiert und mit wechselnden Mehrheiten beschlossen.Vielleicht gibt es sogar ein weiteres Szenario. Sollte Kretschmer kein Direktmandat erringen und daher aus politischem Anstand als Ministerpräsident nicht zur Verfügung stehen, gilt auch seine Absage an eine Koalition der CDU mit der AfD nicht mehr.