© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Eine Schlacht verloren, doch den Krieg nicht
Nigeria: Während die Regierung sich im Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram auf der Siegerstraße wähnt, schlägt diese zu
Marc Zoellner

Sie kamen, um tödliche Rache zu üben: Wie aus dem Nichts stürmten am Mittag des 27. Juli, kurz vor zwölf Uhr, mehrere Dutzend schwerbewaffnete Anhänger der radikalislamischen Terrorgruppe Boko Haram das kleine Dorf Badu im äußersten Nordosten Nigerias und schossen auf die dort versammelten Trauergäste einer Beerdigung. Zwei Wochen zuvor hatten Boko-Haram-Extremisten schon einmal versucht, ein Blutbad in der Siedlung anzurichten. Damals jedoch stießen sie auf den erbitterten Widerstand der Einwohner, die, mit Hacken, Spaten und Küchenmessern bewaffnet, unter eigenen Verlusten die Terroristen vertreiben, elf von ihnen töten sowie zehn Sturmgewehre vom Typ AK-47 erbeuten konnten.

Forderung nach Aufrüstung von Nigerias Militär 

An jenem Samstag sollten die im Gefecht gefallenen Dorfbewohner begraben werden. Doch unter den Feuersalven der Islamisten fanden erneut fast siebzig Menschen den Tod; 23 davon noch auf dem Friedhof, über 40 weitere während der anschließenden Menschenjagd der Boko Haram im Dorf Badu. Große Teile des Dorfes brannten die Extremisten auf ihrem Rückzug nieder. Die meisten der überlebenden Einwohner sehen sich seitdem ihrer Existenzgrundlage beraubt.

Genau zehn Jahre ist es her, daß der Aufstand der Radikalislamisten in Nigeria begann: Nach dem behördlichen Verbot mehrerer Demonstrationen der militanten Sekte, die sich der Einführung der Scharia-Gerichtsbarkeit in ganz Nigeria verschrieben hatte, stürmten in Bauchi, der Hauptstadt des gleichnamigen nigerianischen Bundesstaats, erstmals am 26. Juli 2009 mit Gewehren bewaffnete Anhänger des Sektenführers Mohammed Yusuf eine Polizeistation. Fünfzig Todesopfer waren die Folge dieser spontan organisierten Konfrontation; die meisten auf seiten Boko Harams.

Auch in den Bundesstaaten Yobe, Kano und Borno gerieten Sektenanhänger und Sicherheitskräfte damals aneinander. Schätzungen zufolge starben innerhalb weniger Tage über 300 Menschen während der Gewaltexzesse. Um einen Flächenbrand zu verhindern, stürmten Soldaten am 30. Juli 2009 das Hauptquartier der Sekte in Maiduguri, um Sektenführer Yusuf, der sich im Haus seiner Schwiegereltern verbarrikadiert hatte, festzunehmen – und noch am selben Tag gesetzeswidrig vor den Augen der Öffentlichkeit zu erschießen. In den folgenden zehn Jahren sollten die Terroranschläge seiner Anhänger, die dem nigerianischen Staat den Krieg erklärt hatten, für den Tod von beinahe 52.000 sowie die interne Vertreibung von über 2,5 Millionen Menschen verantwortlich sein.

Über 20.000 militante Kämpfer zählte die Extremistenorganisation zu ihrer Höchstzeit von 2014. Damals erlangte Boko Haram traurige Berühmtheit mit der Entführung von 276 jungen Mädchen aus einem Internat in Chibok, einer christlich geprägten Enklave im muslimisch dominierten Nordosten Nigerias. Nach drei Jahren erst, im Juni 2017, kamen gut 80 der Mädchen wieder frei. Unzählige ihrer Klassenkameradinnen sollen jedoch mit hochrangigen Anhängern der Terrorgruppe zwangsverheiratet oder aber zu Selbstmordattentäterinnen erzogen worden sein. Ebenfalls im Mai 2015 erklärte Abubakar Shekau, der sich nach dem Tod Yusufs zum Anführer Boko Harams aufgeschwungen hatte, seine Treue zu Abu Bakr al-Baghdadi, dem Gründer der Terrorgruppe Islamischer Staat. Die umfangreichen Geschäftstätigkeiten, die von Drogenschmuggel bis hin zu Entführungen und Lösegeldforderungen reichen und mit denen sich Boko Haram bis heute finanziert, machten Shekau überdies auch mit „al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQIM) sowie der malischen Terrormiliz Ansar Dine bekannt. Nachweislich seit Ende 2015 kämpfen Boko-Haram-Extremisten auf Seiten der Ansar-Dine-Islamisten in den Tuareggebieten Malis gegen die Regierung in Bamako.

Doch trotz der wiederholten Überfälle der Sekte auf Dörfer wie Badu, die auch in diesem Jahr nicht nachzulassen scheinen, möchte die nigerianische Regierung in Boko Haram keine akute Bedrohung der inneren Sicherheit mehr erkennen. „Die Boko Haram, die wir kennen, ist geschlagen“, erklärte Garba Shehu, Sprecher des Präsidenten Muhammadu Buhari, drei Tage nach dem jüngsten Massaker. „Was wir nun sehen, ist eine Mischung aus Überbleibseln der Boko Haram, aus flüchtigen Kriminellen sowie der AQIM, die sich mit westafrikanischen Terroristen verbündet hat.“

Tatsächlich beeindrucken die strategischen Erfolge des ehemaligen Generalmajors, der schon einmal, von 1983 bis 1985, als Vorsitzender eines Militärregimes über Nigeria geherrscht hatte: Längst besitzt die Terrorgruppe keine Logistik mehr für spektakuläre Anschläge im Landesinneren; statt dessen sieht sie sich langatmigen Zermürbungskriegen mit den Armeen des Tschad, Kameruns und Nigerias in deren unwirtlichem und unwegsamem Dreiländereck ausgesetzt.

Die verbliebene Kampfstärke Boko Harams schätzt die nigerianische Regierung derzeit auf unter 1.000 Militante – zu denen sich allerdings noch einmal rund 3.000 ausländische Dschihadisten gesellt haben. Und diese bringen von anderen afrikanischen Schlachtfeldern ihre ganz eigene Kampferfahrung mit – mitsamt neuen, hochwertigen Waffentechnologien. „Boko Haram benutzt jetzt Drohnen, um die Einsätze des Militärs aus der Luft zu überwachen“, warnte Ende Juli der Gouverneur des Bundesstaats Borno vor verfrühter Siegeseuphorie. „Wenn wir dem Militär nicht ebenfalls geeignete und zeitgemäße Technologien zur Verfügung stellen, wird dieser Krieg niemals enden.“