© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Er war mehr als Darwins Apostel
Gefährliche Gedankensprünge von der Natur in die Kultur: Zum hundertsten Todestag des Mediziners, Zoologen und Weltanschauungsstifters Ernst Haeckel
Dirk Glaser

Genug ist genug. Im Sommer 1919 wartete der 85jährige Zoologe Ernst Haeckel ungeduldig darauf, zur letzten Reise aufbrechen zu dürfen. Deutschlands Kriegsniederlage, im Juni soeben besiegelt mit dem Versailler Diktat, hatte den weltberühmten Gelehrten in tiefe Melancholie gestürzt. Privates Leid war hinzukommen, der Tod seiner Frau, die 1915 knapp vor der goldenen Hochzeit starb, der Soldatentod zweier Großneffen und vieler Schüler. Finis Germaniae. Kindern und Enkeln riet er daher verbittert zur Auswanderung nach Südamerika. In Jena, in seiner „Villa Medusa“, ist der kranke Greis dann in der Nacht zum 9. August 1919 „ins lange ersehnte Nirvana hinübergeschlummert“. Seine „große gütige Seele“ habe „ihren Flug ins Unendliche“ begonnen, wie Walter Haeckel, ein Künstler, das Lebensende seines Vaters poetisch verklärte.

Warum hundert Jahre später an diese heute doch weithin vergessene, allenfalls Wissenschaftshistorikern noch vertraute und sie faszinierende Figur des „deutschen Darwin“ erinnern? Weil der Rückblick auf eine Biographie, die beispielhaft ist für den europäischen Bewußtseinswandel, der sich im 19. Jahrhundert vollzog – fort vom Lebenssicherheit gebenden christlichen Glauben, hin zur transzendentalen Obdachlosigkeit, vom Idealismus zum Materialismus, von Religion und Metaphysik zu Wissenschaft und Weltanschauung – sich im Historischen nicht erschöpft, sondern unserer Gegenwart Lektionen erteilen kann.

Das ist evident angesichts der tragenden Rolle, die der Auffassung von der Natur für die Weltbildgestaltung im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zukam. Und die sie heute mehr denn je spielt. Dafür genügt ein Hinweis auf den omnipräsenten Eindruck, daß Politik sich im Zeichen des „Klimawandels“ vollständig in Umweltpolitik zu erschöpfen scheint; die Formen gebiert, die Kritiker seit langem über „Klimareligion“ und „Klimakirche“ spotten lassen und die mit dem Potsdamer Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber ihren Haeckel redivivus gefunden hat.

Ernst Haeckel, 1834 in Potsdam geboren, in Merseburg aufgewachsen, wurzelte familiär tief in der noch religiös gefestigten und idealistisch gestimmten Goethezeit. Vater Karl Haeckel (1781–1871), Schlesier, Jurist, hoher Beamter, Kriegsfreiwilliger von 1813, Adjutant Gneisenaus, war ein „Preuße und Protestant vom Scheitel bis Sohle“. Die Mutter Charlotte, geborene Sethe (1799–1889), Tochter eines von Gustav Freytag verewigten Richters im Rheinland, der im Widerstand gegen Napoleons Besatzungsregime sein Leben riskiert hatte, wurde von der Theologie des im Elternhaus verkehrenden Berliner Predigers Friedrich Schleiermacher geprägt.

Ihr Sohn, schon als Schüler ein leidenschaftlicher Botaniker, entfernte sich früh aus der von Thron und Altar bestimmten heimischen Sphäre. Sein in den 1850ern in Berlin und Würzburg absolviertes Medizinstudium verlängert diesen Abstand. Es fällt pünktlich in die Zeit des Übergangs von der romantischen Naturphilosophie zur empirischen Naturwissenschaft, die weder okkulte „Lebenskräfte“ noch „Naturseelen“ zur Erklärung der Naturprozesse benötigt. Deren Geheimnisse enträtselt das messende, zählende, wägende Experiment, der Blick durchs Mikroskop.

So reduziert sich das Naturgeschehen auf wissenschaftlich faßbare und objektivierbare Wirkungszusammenhänge, wie sie der englische Universalgelehrte Charles Darwin (1809–1882) in seiner „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ lehrt, das 1859 erscheint und dessen erste Auflage am ersten Tag vergriffen ist. Von der unerhörten Durchschlagskraft dieses Werkes zeugt die sofort einsetzende weltweite Rezeption ebenso wie der Darwin von Zeitgenossen verliehene Rang eines „Kopernikus der organischen Welt“. Hatte der preußische Astronom die mittelalterliche Kosmologie zum Einsturz gebracht, so räumte Darwin mit der christlich legitimierten Ausnahmestellung des Menschen auf. Um die Natur zu verstehen, bedurfte es für ihn keines übernatürlichen Urhebers, keines Gott genannten Schöpfers. Daher auch keiner seit ihrer Erschaffung konstanten Arten. Die sich bei ihm vielmehr entwickelten und sich in ihren Formen wandelten durch Auseinandersetzung mit und Anpassung an die Umwelt.

Der 1861 in Jena frisch habilitierte Haeckel ergreift nach der Lektüre von „The Origins of Species“ sofort Partei für den Verfasser. Dessen Thesen zum unendlichen evolutionären Wandel leuchten ihm um so mehr ein, als sie seine gerade abgeschlossenen Forschungen zu Radiolarien, strahlenförmige Kieselskelette ausbildenden einzelligen Seetieren,  in der Straße von Messina bestätigen, deren Formenreichtum von der Veränderlichkeit der Arten wie von der Gültigkeit eines einheitlichen Ausleseprinzips zeugten.

Sein emphatischen „Bekenntnis“ zu Darwin legt Haeckel auf der Stettiner Naturforscher-Versammlung von 1863 ab, wo viele Kollegen die Evolutionstheorie noch als spintisierendes „Tischrücken“ abtun. Was Haeckel nicht beirrt, der in Jena zum Professor für Zoologie aufsteigt, als Morphologe beharrlich zur Entwicklungsgeschichte niederer Meeresorganismen forscht und sich als Darwins Apostel Paulus der Popularisierung des „neuen Evangeliums“ vom „Kampf ums Dasein“ widmet, das er erstmals 1868 in einem Werk über die „Natürliche Schöpfungslehre“ (anstelle der biblischen) verkündet, mit der sich an ein naturwissenschaftliches Laienpublikum wendet.

Aber Haeckel ist weit mehr als nur Darwins Herold. Er baut die Deszendenzlehre in Monographien aus, die wie die „Generelle Morphologie der Organismen“ (1866) oder die dreibändigen Studien über Kalkschwämme (1872) heute noch fachwissenschaftlich bestehen können. Und er gibt seinem Drang nach, der seinem skrupulösen und skeptischen, streng auf das empirisch Beweisbare verpflichteten britischen Meister, dem Religion stets Privatsache blieb,  stets fremd war: Haeckel zieht aus der Entwicklungslehre philosophisch-religiöse Konsequenzen. Er formt daraus die Weltanschauung des „Monismus“.   

Weltanschauung. Den Begriff verwendete schon Kant. Aber seine erste von vielen, auch das 21. Jahrhundert nicht verschonenden Konjunkturen erlebt das Phänomen, das er bezeichnet, erst ab 1850, als nach der gescheiterten politischen die „naturalistische Revolution gegen die metaphysischen Traditionen“ (Franz Wieacker) einsetzte. Jede Weltanschauung ist, wie jede Religion, eine totalisierende, alle Lebensbereiche infiltrierende und einheitlich ausrichtende Erklärung der Wirklichkeit, die Ordnung ins beängstigende Chaos der Impressionen bringt und Handlungssicherheit garantiert. Um haussierende Naturwissenschaften wie Zoologie oder Physiologie zu derart ideologischer Tauglichkeit aufzurüsten und sie zu handlungsleitender Sinnstiftung zu befähigen, mußten sie ihre Einzelerkenntnisse nach einem Prinzip synthetisieren, das sich nicht empirisch erschloß. Das vielmehr, wie es Haeckels Leipziger Kollege, der Psychologe Wilhelm Wundt (1832–1920) formulierte, der „Trieb der Vernunft nach Sinn und Ganzheit“ generiere. Weltanschauung kombiniert demnach Wissenschaft und Metaphysik, Beschreibung und Wertung, Vernunft und Glauben. Wobei ideologische Geltungsansprüche Rationalitätsanforderungen zumeist großzügig „liberalisieren“, wenn sie der „spekulativen Weiterbildung“ empirischer Erkenntnisse hinderlich sind (Horst Thomé).

Wie so etwas ins Werk gesetzt wird, dafür steht das Beispiel des Weltanschauungsstifters Ernst Haeckel wie kein zweites in der wilhelminischen Sozialgeschichte der Ideen. Haeckel verschafft seinen Arbeiten eine breite öffentliche Resonanz, indem er die im Licht der Evolutionstheorie Darwins interpretierten Ergebnisse seiner morphologischen Studien an niederen Organismen zwecks wertender Beschreibung auf menschliche Organisationsformen überträgt. Er naturalisiert die Politik. Mit einer prägnanten Formel aus Aristoteles’ Logik ist ein solcher Wechsel, der Naturgesetze in Kulturnormen verwandelt, eine Metábasis eis állo génos, ein Gedankensprung von einem Gegenstandsbereich in einen anderen, der stets mit einem Fehlschluß endet. Bestenfalls. Wenn nicht sogar bei dieser Operation, wie bei Søren Kierke-gaard, die Vernunft mit einem „absurden Sprung“ flugs im Glauben landet.

Als biologistisch inspirierter Gesellschaftsreformer, für den die moderne, wohlfahrtsstaatliche Zivilisation die „natürliche Auslese“ stoppte und das die Gemeinschaft zerstörende Überleben von Schwachen sicherte, plädierte Haeckel in Bestsellern wie „Die Welträtsel“ (1899) und „Die Lebenswunder“ (1904) für rassenhygienische Korrekturen solcher „Entartung“. Bis hin zu „spartanischen Lösungen“, der Tötung behinderter Neugeborener. Womit er seinen Ruf arg beschädigte, denn seit 1945 gilt Haeckel als ein Vorläufer der NS-Rassenideologie. Nicht zu Unrecht, obwohl sie sein Erbe ausschlug, weil es zu „materialistisch“ daherkam, auch zu pazifistisch und kosmopolitisch. Man erinnerte sich zudem an eine gewisse Nähe zur Sozialdemokratie. In den übers ganze Deutsche Reich verteilten Ortsgruppen von Haeckels 1906 gegründeten „Deutschen Monistenbund“ sammelten sich linksliberale Intellektuelle und heimliche SPD-Sympathisanten unter den Gymnasiallehrern. Zu schweigen von Mitgliedern wie Magnus Hirschfeld, dem Vorkämpfer der Homosexuellen-Emanzipation, oder dem ebenfalls in 1920ern zu großer Prominenz gelangten Journalisten Carl von Ossietzky. Nicht vergessen waren auch lobende Urteile von Friedrich Engels, Lenin und dem KPD-Mitbegründer Franz Mehring, der den Monismus des SPD-Hassers und „Sozialaristokraten“ Haeckel für eine „probate Waffe im Klassenkampf“ hielt.

Für viele Weltanschauungen sind solche parteiübergreifenden Effekte ebenso typisch wie die Massenwirkung ihrer Literatur, die wie Haeckels „Welträtsel“ eine 400.000er Auflage erreichte.

Um indes ihre volle Durchschlagskraft zu erzielen, war, wie der Freiburger Historiker Hans-Günter Zmarzlik in seiner Studie über den „Sozialdarwinismus in Deutschland“ (1963) bemerkte, ein spezifischer sozialer Resonanzboden erforderlich, der seit Ende des 19. Jahrhunderts expandierte und aufs Zeitalter der totalitären Ideologien vorauswies. Heute, wenn unter neuen Vorzeichen wieder einmal Haeckels „naturgemäße Gestaltung der Cultur“ en vogue ist und Schüler unter der Parole „Fridays for Future“ mobil machen, wäre an diese von Zmarzlik genannten zwei Komponenten zu erinnern, die den Massenerfolg von Weltanschauungen begünstigen: Halbbildung und sachliche Unkenntnis, wie sie primär „bei Jugendlichen aller Schichten“ vorherrsche.