© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Auf der eigenen Lebensart bestehen
Identitätspolitik: Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, die Unesco und der Rassismus-Begriff
Thorsten Hinz

Die Rassenfrage ist ein vermintes Gelände. Offiziell existieren überhaupt keine „Rassen“ mehr. Jedenfalls veröffentlichte die Unesco 1995 eine Erklärung, wonach „es keinen wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen ‘rassischer’ Kategorien oder dem traditionellen ‘Rassen’-Konzept zu charakterisieren“. Folglich gebe es auch „keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff ‘Rasse’ weiterhin zu verwenden“.

Die Unesco-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ ließ im selben Jahr verlauten, daß „die Einteilung von Menschen anhand der Verteilung von genetisch determinierten Faktoren daher einseitig (sei) und (…) das Hervorbringen endloser Listen von willkürlichen und mißleitenden sozialen Wahrnehmungen und Vorstellungen“ fördere. Andererseits spielen der „Rassismus“ beziehungsweise der „Kampf“ dagegen auf allen Ebenen eine immer größere Rolle. In der Identitätspolitik etwa der Afroamerikaner ist die farbliche Eigenart zur Signatur kultureller Eigenheiten und sozialer Interessen geworden, und zwar in scharfer Frontstellung zur Dominanz der „alten weißen Männer“.

Nichteuropäer proklamieren eine Schuld der Weißen

Sinnverwandte Begriffe wie „Fremdenfeindlichkeit“ und „Diskriminierung“ ermöglichen es auch anderen Ethnien und religiösen Gruppen, mit zunehmendem Erfolg Vorwürfe und eine Anspruchshaltung an die Adresse der Europäer und der „weißen“ Welt zu formulieren. Diese Politik hat einen langen Vorlauf. Schon 1978 verabschiedete die 20. Generalkonferenz der Unesco eine Erklärung über Rassen und Rassenvorurteile, die den Staaten empfahl, „unter anderem durch Rechtsvorschriften insbesondere auf dem Gebiet der Bildung, Kultur und Kommunikation, alle geeigneten Schritte unternehmen, um Rassismus, rassistische Propaganda, Rassentrennung und Apartheid zu verhindern, zu verbieten und auszumerzen“.

Außerdem wurden „einschlägige natur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen über die Ursachen und zur Verhütung von Rassenvorurteilen und rassistischen Haltungen“ angeregt. Es seien entsprechende Gesetze zu erlassen und „alle geeigneten Mittel anzuwenden, um der gesamten Bevölkerung zu helfen, diese Gesetze zu verstehen und anzuwenden“. 1995 ließt die Unesco eine sogenannte Toleranz-Erklärung folgen. In Artikel 4 wird behauptet, die Toleranz binde Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat zusammen. Der erste Schritt zur ihrer Vermittlung bestehe darin, den Einzelnen über seine Ansprüche zu unterrichten. 

Sie können aber effektiv geltend gemacht werden ausschließlich in westlich geprägten, also mehrheitlich „weißen“ Staaten, da nur hier Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat eine annähernde Dreiheit bilden. Was in der Konsequenz bedeutet, daß „rassische“ Vorstellungen gar nicht überwunden, sondern unter veränderten Vorzeichen neu in Kraft gesetzt werden, um unterstellte oder tatsächlich Machthierarchien umzukehren.Nichteuropäer proklamieren eine historische Schuld der Weißen, um den Export ihrer Bevölkerungsüberschüsse in deren Länder zu begründen und in den Ankunftsstaaten auf voraussetzungslose Teilhabe zu pochen.

Claude Lévi-Strauss (1908–2009), der berühmteste Ethnologe und Mythenforscher des 20. Jahrhunderts, hat früh vor dieser Entwicklung gewarnt. Er kritisierte schon vor Jahrzehnten, daß der Kampf gegen Rassismus in ideologischen statt in naturwissenschaftlichen Kategorien geführt wurde. Um ernsthaft darüber zu diskutieren, müsse man in den Dialog mit der Populationsgenetik eintreten, da nur sie in der Lage sei, „den Anteil des Erworbenen und des Angeborenen beim Menschen abzugrenzen“.

Er prangerte den „sprachlichen Mißbrauch“ und „verbalen Schwulst“ an, mit dem „normale, sogar legitime“ Einstellungen mit tatsächlichem Rassismus gleichgesetzt wurden. „Rassismus“ bedeute, intellektuelle und moralische Merkmale, die man mit einer Population verbinde, auf ein gemeinsames genetisches Erbgut zurückzuführen und aus Haut- und Haarfarbe, Schädelformen, Blutgruppen eine uralte Identität und Kultur abzuleiten. Davon hielt er in der Tat nichts, unter anderem weil es viel mehr Kulturen als Rassen gebe und es vorkomme, daß räumlich weit voneinander entfernte Populationen kulturelle Ähnlichkeiten aufwiesen, während räumlich benachbarte Populationen gravierende kulturelle Unterschiede haben könnten.

Gleichsam natürlich sei hingegen das Bestehen auf dem Eigenen, auf der eigenen Denk- und Lebensart, auch ihre Höherstellung und die mehr oder weniger starke Ablehnung anderer Denk- und Lebensweisen. Kulturen könnten sich gegenseitig befruchten, aber um bestehenzubleiben, müsse „zwischen ihnen eine gewisse Undurchlässigkeit fortbestehen“.

1983 warnte er in einer Rede vor der Unesco in Paris vor dem Utopismus einer kulturellen Gleichschaltung, vor einer „Weltkultur“ aus „bastardhaften Werken und läppischem Tand“, in der die verschiedenen Kulturen eingeebnet würden und ihre Anziehungskraft für andere einbüßten. Aus dem kulturellen Partikularismus, also der Vielfalt, seien die großen spirituellen, geistigen, kulturellen Werte hervorgegangen, „die dem Leben seinen Wert verleihen“ und die die Menschen immer weniger in der Lage sind, „selbst hervorzubringen“. Die völlige Identifikation mit dem anderen und die gleichzeitige Treue zu sich selbst gingen nicht zusammen.

Lévi-Strauss räumte bestehende Machtbeziehungen und -hierarchien zwischen den Kulturen ein. Jahrhundertelang hätte das Abendland einen großen Vorsprung vor den anderen gehabt, der von diesen auch anerkannt worden sei. Den westlichen Stimulus, sich die Welt Untertan zu machen, hielt er für inzwischen durch buddhistische oder indianische Elemente ergänzungsbedürftig, beispielsweise durch den Respekt vor der Natur und das Streben nach spirituellem Gleichgewicht.

Wechselseitige Toleranz hat zwei Bedingungen

Den simplen Biologismus lehnte er nicht nur ab, er kehrte ihn auf originelle Weise um. Nicht die „Rassen“ würden die Kulturen erschaffen, sondern umgekehrt: „Die Rasse – oder was man gemeinhin unter diesem Begriff versteht – (ist) eine Funktion der Kultur unter anderen“. Er beschrieb die Kulturen als ein System komplexer Referenzen. Für entscheidend hielt er etwa die „kulturellen Einstellungen zu erblichen Anomalien“, die Praktiken der Kindstötungen und der Empfängnisverhütung, die Heiratsregeln, die Stellung zur Polygamie, zum Inzest und ganz allgemein Bräuche, Riten und Tabus.

Während die Unesco 1995 befand, es gebe „keine überzeugenden Belege für ‘rassistische’ Verschiedenheit hinsichtlich Intelligenz, emotionaler, motivationaler oder anderer psychologischer und das Verhalten betreffender Eigenschaften, die unabhängig von kulturellen Faktoren sind“, bestand Lévi-Strauss auf der dialektischen Wechselwirkung und gab sich überzeugt, daß „jede Kultur genetische Anlagen selektiert, die auf dem Wege der Rückwirkung Einfluß auf die Kultur ausüben, die anfangs zu ihrer Verstärkung beigetragen hatte“.

Er nannte das Beispiel von Amazonas-Indianern, deren gewählte Häuptlinge neben herausragenden körperlichen Fähigkeiten auch überdurchschnittliche Eigenschaften wie Führungsqualitäten, Unternehmungsgeist und Verantwortungsgefühl aufwiesen. Die Häuptlingswürde bringe dabei „weniger Vorteile als Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten mit sich“. Das einzige Privileg war das Recht auf Polygamie, der Zugriff auf alle heiratsfähigen Frauen der Gruppe. Dadurch zeugten die Häuptlinge mehr Nachwuchs als andere Männer, so daß „die Polygamie (das) dauerhafte Fortbestehen“ ihrer besonderen Fähigkeiten – sofern genetisch grundiert – begünstigte. Was umgekehrt die Frage nach dem Schicksal von Populationen aufwirft, in denen die kulturellen und sozialen Regeln statt der positiven eine Negativauslese favorisieren.

Lévi-Strauss hielt es für lebensfremd, Rassenunterschiede zu leugnen, würden sie doch „unbewußt von einer Menschheit (empfunden), die der Bevölkerungsexplosion zum Opfer fällt“ und von der „heimlichen Vorahnung“ gewarnt wird, „daß sie zu zahlreich wird, als daß jedes ihrer Mitglieder in den freien Genuß jener lebenswichtigen Güter wie räumliche Bewegungsfreiheit, sauberes Wasser und nichtverschmutzte Luft kommen könnte“. Inzwischen ist dieses Faktum als „Youth bulge“ der Dritten Welt ins allgemeine Bewußtsein gerückt, wird allerdings als ein Problem betrachtet, dessen Bewältigung exklusiv in der Verantwortung der Europäer und allgemein der „Weißen“ liegt. Diese reagieren, wie Lévi-Strauss schon 1983 konstatierte, mit „Selbsthaß“, der sie blind dafür macht, daß wechselseitige Toleranz zwei Bedingungen hat: „relative Gleichheit einerseits und hinreichende physische Distanz andererseits“. Die forcierten Aufhebungen von Grenzen und Distanzen führten in eine Situation, die „derartige Spannungen mit sich bringt, daß die Regungen von Rassenhaß nur ein dürftiges Bild des Regimes verschärfter Intoleranz vermitteln, das sich morgen einzurichten droht, ohne daß ihm die ethnischen Unterschiede noch als Vorwand dienen müßten“. Der aggressive Antirassismus schafft also, was er zu beenden vorgibt.