© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Ritterliche Riten zweckentfremdet
Die Gründung des Ordens des Heiligen Michael unter König Ludwig XI. und seine Rolle auf dem Weg zum modernen Frankreich
Karlheinz Weißmann

Unter einem Orden stellt sich der moderne Mensch eine Auszeichnung vor, ein tragbares Abzeichen, das jemand von Staats wegen erhält, weil er es sich, wie ein Spötter sagte, erdient, erdienert oder erdiniert hat. Diese Deutung des Begriffs „Orden“ ist allerdings neueren Datums, denn ursprünglich verstand man darunter eine religiöse Gemeinschaft, einen engen Zusammenschluß von Priestern, Mönchen, Nonnen oder jenen Mönchskriegern, die seit dem 12. Jahrhundert die Orden der Templer, Johanniter oder Deutschherren bildeten. Letztere stellten aber schon die Verbindung zwischen der älteren und der jüngeren Auffassung des Ordens dar, denn nach dem Ende der Kreuzzüge lebte der Gedanke fort, daß sich das Ideal des miles christianus – des „christlichen Kämpfers“ – besonders in einem engeren Zusammenschluß aus Gleichgesinnten verwirklichen lasse. 

Obwohl sich das Rittertum als militärische Einrichtung im Niedergang befand, griffen die europäischen Herrscher diese Vorstellung auf, um sich die Gefolgschaft ihrer Großen zu sichern. Ein entsprechendes Motiv spielte jedenfalls eine ausschlaggebende Rolle, als Ludwig XI. von Frankreich am 1. August 1469 im Schloß von Amboise den Orden des Heiligen Michael stiftete. Das Ordenszeichen bestand aus einem Medaillon, das den Erzengel zeigte, wie er Satan niederwarf, befestigt an einer goldenen Kette aus S-förmigen Gliedern, mit goldenen Jakobsmuscheln besetzt. 

Die Elite enger an den König binden

Es gab auch ein weißes Ordensgewand mit Hermelinbesatz, das aber nur selten getragen wurde. Die Zahl der Ordensmitglieder war ursprünglich auf 36 beschränkt, die den König als Hochmeister anzuerkennen und in allen Dingen gehorsam zu sein hatten. Außerdem mußten sie eine Ahnenprobe vorlegen, die Gesetze der Ritterschaft und die Lehre der Kirche anerkennen.

Allerdings darf man den religiösen Aspekt nicht überbetonen. Sicher war Ludwig XI. ein Mann von ausgeprägter, wenn auch etwas seltsamer Frömmigkeit – berühmt sein mit Heiligenbildchen verzierter Hut –, und seine besondere Devotion galt dem Erzengel. Aber er war auch ein Politiker mit ausgeprägtem Realitätssinn, dem nachgesagt wurde, daß er die himmlische Unterstützung vor allem für das Gelingen seiner Perfidien erbitte. Deshalb muß die Gründung des Michaelsordens in erster Linie als Teil seiner Reaktion auf die Konfliktlage betrachten werden, in der er sich wie seine Vorgänger befand: eingekeilt zwischen dem englischen Erbfeind und dem aufstrebenden Burgund, das ein souveränes Königreich auf Kosten Frankreichs zu schaffen suchte. Der Orden des Heiligen Michael sollte in dieser Auseinandersetzung dazu dienen, das Prestige Ludwigs zu erhöhen, indem er seine „Superelite“ (Claude Ducourtial) gegen die englische – vereinigt im Hosenbandorden – wie die burgundische – vereinigt im Orden vom Goldenen Vlies – zusammenschloß.

Dieser Konkurrenzaspekt kam schon darin zum Ausdruck, daß die Statuten des Ordens des Heiligen Michael fast wortwörtlich denen des Goldenen Vlieses entsprachen. Aber vor allem nutzte Ludwig die Verleihung des Ordens, seine Kronvasallen aufzufordern, ihre „wahre Liebe“ zu Frankreichs Herrscher zu beweisen, indem sie das Goldene Vlies an Karl den Kühnen, den Herzog von Burgund zurückgaben. Mit einer entsprechenden Aufforderung hatte er bei den immediat Gestellten fast immer Erfolg. 

Anderes galt bei denjenigen, die wie die Herzöge von Geldern oder der Bretagne nicht unter seiner direkten Kontrolle standen und Sorge um ihre Unabhängigkeit hatten, gar nicht zu reden von denen, die die Ungnade des Burgunders mehr fürchten mußten als die Ludwigs. Die Situation änderte sich erst, nachdem Karl der Kühne 1477 in der Schlacht bei Nancy umkam. Kaum etwas brachte die neuen Machtverhältnisse sinnfälliger zum Ausdruck als die Bereitschaft Philippe Pots, des burgundischen Oberhofmeisters, sich von Ludwig in das Amt eines Großseneschalls – einer Art Generalgouverneur – einsetzen und in den Orden des Heiligen Michael aufnehmen zu lassen.

1481 wurde Pot deshalb aus dem Orden vom Goldenen Vlies ausgestoßen, dem er fast zwei Jahrzehnte angehört hatte. Das geschah durch ein förmliches Verfahren unter Leitung des Habsburgers Maximilian, Erzherzog von Österreich, nachmals römisch-deutscher König und Kaiser. Maximilian hatte durch die Ehe mit Maria, der Tochter Karls des Kühnen, dessen Erbe als Herzog von Burgund und als Hochmeister angetreten. 

Er achtete die Privilegien der Ritter des Goldenen Vlieses, zu denen auch das Recht der Beratung ihrer Angelegenheiten gehörte. Eine Selbständigkeit, die Ludwig XI. im Hinblick auf den Orden des Heiligen Michael niemals akzeptierte. Er hatte auch keinen Sinn für das aufwendige Zeremoniell, das am burgundischen Hof und bei den Zusammenkünften des Goldenen Vlieses typisch war, fand schon den Weg zum Klosterberg des Mont Saint-Michel zu beschwerlich, wo eigentlich die jährlichen Zusammenkünfte am Michaelistag stattfinden sollten, verlegte den Sitz des Ordens bequemerweise nach Paris und ließ dessen Fest immer ausfallen, wenn Staatsgeschäfte wichtiger waren.

Fundament des modernen französischen Staates

Es zeigt sich an diesem Verhalten ein rationaler Zug im Wesen des Königs, der für seine politische Linie typischer sein sollte als eine Ordensgründung. Mit der ist zwar sein Name verknüpft, aber ausschlaggebend für seine Stellung in der französischen Geschichte war, daß Ludwig nicht nur alle seine Gegner überlebte, sondern auch mit Geschicklichkeit, Gewalt und Verrat erreichte, daß sein von außen wie von innen bedrohtes Land befriedet und zu einer Einheit geschmiedet wurde. Man hat von ihm gesagt, daß er alle seine Räte in seinem Kopf vereinigt habe. 

Vertrauen schenkte er, wenn überhaupt, nur Männern von schlechtem Ruf. Er hielt sie wie alle anderen gefügig, entmachtete die Stände und den dauernd revoltierenden Adel. Er regierte als Despot und nahm in mancher Hinsicht den Absolutismus vorweg, aber in jedem Fall legte er das Fundament des modernen französischen Staates. Für den sollten andere Auszeichnungen als der Orden des Heiligen Michael von größerer Bedeutung sein, der schon in den Wirren der Religionskriege an Prestige verlor und dann zuerst gegenüber dem Orden vom Heiligen Geist und dann gegenüber dem Orden des Heiligen Ludwig zurückgesetzt wurde, 1791 durch die Revolution aufgehoben, 1816 durch die zurückgekehrten Bourbonen restauriert und 1830 mit dem Bürgerkönigtum endgültig erledigt wurde. Seither hat Frankreich nur noch eine Auszeichnung jenes Ranges, der ursprünglich dem Orden des Heiligen Michael zugedacht war: die Ehrenlegion.