© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Einsichten von links
Vogelperspektivisches von Edelbert Richter
Rolf Stolz

Im kulturell verarmenden, von Genderwahn und Spießerpuritanismus zerrissenen Deutschland ist es mehr als je lohnend, über den Gartenzaun zu schauen. Für Konservative geht es darum, jene wenigen, aber wichtigen Autoren auf der nationalen Linken wahrzunehmen, die sich aus staatssozialistischer und utopistischer Selbstverdummung befreit haben. 

Für Linke und Liberale handelt es sich um die Notwendigkeit, diesen oft nur von rechten Verlagen veröffentlichten Dissidenten zuzuhören, die statt der Anti-Irgendwas-Kampagnen inhaltliche Perspektiven zu bieten haben. Einer dieser Rufer in der Korrektheitswüste ist der Weimarer Theologe und Philosoph Edelbert Richter. 1943 geboren, gehörte er seit Ende der siebziger Jahre zur DDR-Dissidenz. Im Sommer 1989 war er Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“. Während seine Parteikollegin Angela M. 1990 zur CDU wechselte, ging er zur SPD und wechselte nach diversen Enttäuschungen 2007 zur Linken. Mehrfach war er Abgeordneter:  1990 in der letzten Volkskammer, 1991 bis 1994 im Europäischen Parlament, danach bis 2002 im Bundestag. 

Frei von pauschaler Entlastung wie Schuldzuweisung untersucht Richter, wie es zur NS-Machtergreifung, zum Weltkrieg und zum Holocaust kommen konnte, ohne dabei den Anspruch einer abschließenden Erklärung zu erheben. Nationale Identität sieht er als Aufgabe einer Nation, die ihr Schicksal nicht so an andere ausliefert, wie es die beiden deutschen Staaten teils gezwungen, teils freiwillig nach 1949 taten. Immer geht es ihm um Emanzipation – vor allem von den USA, also jenem Land, das 1917 und 1941 den Weltkrieg als Chance zur Weltherrschaft ergriff. 

Vorurteilsfrei, aber durchaus kritisch untersucht er auch die Geschichte des jüdischen Volkes, das ohne seine besondere Religion und Kultur und ohne seine Bereitschaft zu entschlossener Selbstbehauptung nicht überlebt hätte. Richter verbindet protestantische Nüchternheit, wissenschaftliche Präzision, Traditions- und Wertebewußtsein (anderthalb Jahrzehnte war er Mitglied der Grundwertekommission der SPD) mit einem Sinn für das Große und Ganze, was der Autor in seiner Einleitung zugleich auf das Heute (Trump, Brexit usw.) bezieht. 

Edelbert Richter: Für ein Ende der Halbwahrheiten. Korrekturen an unserem Bild von Judentum und Nationalsozialismus. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2018, gebunden, 448 Seiten, 24,80 Euro