© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Die letzte Grenze überschreiten
Raumfahrt: Ehrgeizige Projekte sollen die Menschheit voranbringen
Marc Zoellner

Beeindruckend sieht es nicht eben aus, das jüngste Projekt der Europäischen Weltraum-Agentur (ESA): Nicht einmal zehn Zentimeter an Breite und kaum dreißig Zentimeter an Tiefe mißt der kleine, OPS-SAT getaufte Kasten, an dessen Seiten sich zwei kurze Stummelflügel anschließen, die mit Solarpaneelen belegt sind und dessen vorderes Ende eine Kameralinse ziert. Doch wer auf den ersten Blick meint, bei OPS-SAT handele es sich um ein Kinderspielzeug aus dem Modellbaugeschäft, liegt weit daneben. Denn der unscheinbare weiße Kasten beinhaltet einen der leistungsfähigsten Rechner der Raumfahrtindustrie – und soll diesen Herbst bereits als der Menschheit erstes frei zugängliches Astrolabor in den Weltraum geschossen werden.

Europäische ESA will im Herbst Zeichen setzen

Satelliten wie OPS-SAT gehören zur Klasse der Cubesats, kastenförmiger kleiner Hochleistungsrechner mit geringstmöglicher Kantenlänge, die nicht mehr als 1,3 Kilogramm wiegen und aufgrund ihrer Nutzlast von einer einzigen Rakete gleich zu Hunderten mit ins All genommen werden können. Über 2.500 dieser Nanosatelliten umkreisen derzeit bereits die Erde. „Laut einer Branchenstudie, die sich auf 2017 bezieht“, berichtete die ESA im April, „waren rund 83 Prozent aller weltweit gestarteten Satelliten Cubesats, und die Zahl der Starts wird in den kommenden Jahren deutlich steigen.“

Von Forschern der Universität Graz entwickelt, kommt OPS-SAT dabei eine Pionierrolle zu: Nicht nur ist er der erste direkt von der ESA gesteuerte Cubesat. Seine Dienstzeit im Erdorbit, die zwischen einem und zwei Jahren Dauer geplant ist, steht erstmals komplett wissenschaftlichen Einrichtungen sowie privatwirtschaftlichen Unternehmen offen. 

Allein bis zum Juni konnte die ESA bereits über einhundert derartige Nutzungsverträge abschließen, was für die Weltraumagentur einen wichtigen Schritt hin zur Kommerzialisierung der Raumfahrt sowie zur unabhängigen Refinanzierung ihrer weiteren Projekte bedeutet. „OPS-SAT ist das fliegende Labor der ESA, welches Sie benutzen können, um Ihre Experimente im Erdorbit auszuprobieren“, wirbt die Behörde auf ihrer Website. Im Darmstädter SMILE-Zentrum („Special Mission Infrastructure Lab Environment“) wurden zu diesem Zweck extra Plätze für die Bodenkontrolle der eingeschriebenen Wissenschaftler und Unternehmer freigestellt.

Im Jahr Fünfzig nach der Mondlandung übertrifft sich die ESA geradezu mit einem Vorreiterprojekt nach dem anderen: Denn neben OPS-SAT soll im Spätherbst ebenfalls CHEOPS gestartet werden, ein in Zusammenarbeit mit der Schweizer Weltraumbehörde Swiss Space Office (SSO) entwickeltes Teleskop. „Hauptanliegen dieser Mission ist, die Struktur von Exoplaneten zu erforschen, die größer als die Erde und kleiner als der Neptun sind“, konstatieren die Betreiber des Satelliten, dessen Laufzeit auf rund dreieinhalb Jahre geplant ist. Auch hier stehen zwanzig Prozent der Nutzungszeit privaten Investoren zur Verfügung. Der große Rest wird darauf verwendet, Masse, Größe und Dichte bereits bekannter Planeten außerhalb unseres Sonnensystems – der sogenannten Exoplaneten – zu bestimmen sowie nach möglichen Monden, Ringen und Gezeitenkräften auf und um die Planeten Ausschau zu halten.

Die Entdeckung weiterer neuer Exoplaneten gehört jedoch ausdrücklich nicht zum Konzept der Forscher. „Da wir bereits bekannte Systeme anvisieren, wissen wir exakt, wohin wir im Himmel zu schauen haben und wann wir ihre Planetentransite“, das Vorüberziehen der Exoplaneten an ihrer eigenen Sonne, „am ertragreichsten einfangen können“, erklärt der Schweizer Astrophysiker Willy Benz, Forschungsvorstand am CHEOPS-Projekt. 

Das sechzig Kilogramm schwere und anderthalb Meter Kantenlänge messende Weltraumteleskop besitze zwar keinen Spektrographen an Bord, um die Atmosphären der Exoplaneten auf ihre chemischen Eigenschaften hin zu untersuchen. Doch aufgrund der hohen Kameraauflösung sowie einer speziellen Methode der Sternenlichtmessung, die vom Planeten selbst reflektiert wird, ist CHEOPS in der Lage, vereinzelte Wolkenbildung auf fremden Planeten nachzuweisen. 

Hinzu kommt natürlich die erstmalige genaue Bestimmung, ob es sich bei den jeweiligen beobachteten Himmelskörpern um jupitergleiche Gas- oder erdähnliche Gesteinsplaneten handelt. „Nach zwei Jahrzehnten der Planetenentdeckung betreten wir mit CHEOPS ein neues Zeitalter der Exoplanetologie“, verkündete Didier Queloz, wissenschaftlicher Leiter des Projekts, jüngst stolz der Presse. „Wir graben uns tief ein in die materiellen und chemischen Eigenschaften von Planetensystemen fernab unseres eigenen.“

Es ist eine Grundlagenforschung, welche die ESA betreibt, die speziell der bemannten Raumfahrt zugute kommen wird. Mit der Landung auf dem Mond durch die Apollo-11-Mission hatte die Menschheit nur ihren ersten Fuß aus der eigenen Wiege gesetzt. 

Weit monumentalere Projekte stehen bereits auf der Agenda der großen Raumfahrtnationen USA und Rußland sowie den Emporkömmlingen aus der EU, China, Japan, Israel und Südkorea, die allesamt den Mond erneut im Blick haben. Doch auch private Investoren bringen sich immer deutlicher in das Rennen um bemannte Flüge zum Mond und darüber hinaus ein. Die wohl pompösesten Pläne präsentierte unlängst die US-amerikanische „Gateway Foundation“ – eine Raumstation gigantischen Ausmaßes, benannt nach dem berühmten deutschen Raketeningenieur Wernher von Braun.

Nicht grundlos berufen sich die Macher dieser Aktion, allesamt selbst aus der Luft- und Raumfahrt stammende Fachleute, auf den im Juni 1977 in den Vereinigten Staaten verstorbenen Visionär. „Innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre wird die Erde einen neuen Begleiter im Himmel haben“, beschrieb von Braun bereits im März 1952 seine Vorstellung von der Besiedelung des Weltraums durch die Menschheit. „Ein von Menschenhand geschaffener Trabant, welcher entweder der größte je erdachte Friedensstifter oder aber die fürchterlichste Kriegswaffe werden könnte – je nachdem, wer sie erschafft und kontrolliert.“ 

Der im US-Magazin Collier’ erschienene Beitrag mit dem Titel „Crossing the last frontier“ („Die letzte Grenze überschreiten“), in dem bereits die Modelle einer künftigen Weltraumstation anschaulich illustriert waren, hatte bahnbrechende Wirkung auf Kunst und Kultur: Allen voran auf den 1968 erschienenen Bestseller „2001: Odyssee im Weltraum“ des britischen Science-fiction-Autors Arthur C. Clarke sowie die gleichnamige Kinoverfilmung Stanley Kubricks. Allein an der Finanzierung dieses Mammutprojekts scheiterte von Braun noch in den 1950ern vor dem US-Senat.

„Raumfahrtprojekte, die durch Steuern finanziert werden, werden regelmäßig gekürzt, angefochten und bekämpft“, zeigt sich die Gateway Foundation durch den Mißerfolg des deutschen Vordenkers geläutert. „Regierungen werden von daher nicht eine einzige unserer Rechnungen begleichen.“ 

Die im kalifornischen Alta Loma ansässige Stiftung verlegt sich vielmehr auf ein gemischtes System aus Weltraumtourismus und Losverkauf, um Kapital zu erwerben. „Im vergangenen Jahr nahmen die Lotterien in den USA 70 Milliarden US-Dollar ein“, erklärt die Foundation ihre Finanzierungsidee. „Auf der ganzen Erde kamen über 300 Milliarden US-Dollar zusammen. In Relation gesetzt, ist das die doppelte Summe dessen, was der Bau der Internationalen Raumstation ISS kostet – und zwar in einem einzigen Jahr.“

Die „Von Braun Station“ ehrgeizig zu nennen ist eine gelinde Untertreibung: Das kreisrunde, einem Fahrradreifen nicht unähnlich wirkende Habitat soll einen Durchmesser von über 400 Metern besitzen, Wohnzellen, Restaurants und Sportanlagen beherbergen und sowohl Wissenschaftlern als auch gut betuchten Reiselustigen offenstehen – sowie jenen natürlich, die den Hauptpreis in der Lotterie gewonnen haben. Durch die permanente Rotation der äußeren Bereiche um das Zentrum der Station erzeugt das Habitat seine eigene Schwerkraft, die etwa ein Drittel jener auf der Erde betragen soll. 

Eine Zusammenarbeit in Konstruktion und Betrieb wurde bereits mit Elon Musk, dem milliardenschweren Gründer des Raumfahrtdienstleisters SpaceX, beschlossen; nicht nur für die „Von Braun Station“, sondern ebenfalls für das Nachfolgeprojekt „Gateway“: einen orbitalen Raumhafen der Erde, von welchem aus die Kolonisation der äußeren Planeten und Asteroidengürtel unseres Sonnensystems vorangetrieben werden soll. „Diese Weltraumstation wird unser Portal zu den Sternen, und für jene, die auf dem Mond, dem Mars und darüber hinaus geboren werden, wird es das Portal zur Erde sein.“

Noch ist die Machbarkeit eines derartigen Menschheitsprojekts zumindest zweifelhaft. Nicht zu bezweifeln ist hingegen, daß der Idealismus hinter diesem Projekt als Katalysator für bereits jetzt machbare Missionen dient. Das Ziel, die Sterne zu besiedeln und den Menschen neue Lebensräume im Weltall zu erschließen, mag zwar weiterhin in Ferne liegen. 

Auch China will eine Basis auf dem Mond 

Zum ersten Schritt auf diesem Weg fühlen sich die raumfahrenden Nationen der Erde jedoch schon genötigt – allen voran die Vereinigten Staaten, die mit ihrer Mondlandung vor fünfzig Jahren den Grundstein dieser Reise legten. „Einmal mehr ist unser Blick auf unseren Nachbarn, den Mond, gerichtet“, verkündete US-Vizepräsident Mike Pence bereits im August vergangenen Jahres vor Mitarbeitern der US-Raumfahrtbehörde Nasa. „Doch diesmal geben wir uns nicht zufrieden, nur Fußabdrücke zurückzulassen – oder überhaupt den Mond wieder zu verlassen. Für die Vereinigten Staaten ist die Zeit gekommen, eine dauerhafte Anwesenheit um und auf dem Mond zu erschaffen.“

Im Vergleich zu den beiden Raumstationen der Gateway Foundation macht sich die von Nasa, ESA, Roskosmos (Rußland), JAXA (Japan) und CSA (Kanada) geplante „Lunar Orbital Platform – Gateway“, die bereits 2024 in Betrieb genommen werden soll, geradezu klein. Dafür hielten sich, dank eines bereits existenten breiten Netzwerks an Raumfahrtunternehmen und Zulieferern, allerdings auch die veranschlagten Kosten gering. „Nicht einmal ansatzweise so viel wie die bemannten Apollo-Missionen der 1960er gekostet haben“, versprach Nasa-Administrator Jim Bridenstine.

Den Zeitplan ihrer Raumfahrtpläne hat sich die US-Regierung dabei bewußt eng gesetzt: Denn nicht nur private Investoren wie SpaceX und die Gateway Foundation stehen als Konkurrenten auf der Schwelle. Erst im April dieses Jahres verkündete auch China, bis spätestens 2030 eine eigene bemannte Basis auf dem Mond zu gründen. Genauer gesagt, am Südpol des Trabanten: Denn dessen permagefrorenes Wasser dürfte in Zukunft als Treibstoff für interplanetare Reisen dienen – und ist somit jetzt bereits von strategischer Wichtigkeit für jeden, der seinen Fuß in das Weltall setzen möchte.