© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Blinde Flecken
Debatte: Eine Erwiderung auf Bernhard Schlinks Thesen von der „Engführung des Mainstreams“
Günter Scholdt

Am 1. August 2019 erschien in der FAZ Bernhard Schlinks Artikel „Der Preis der Enge“, bei dessen Lektüre man nicht weiß, ob man sich ärgern oder freuen soll. Erfreulich ist das Plädoyer für mehr Offenheit gesellschaftlicher Kontroversen und seine Mißbilligung eines zu engen, moralistisch aufgepumpten Mainstreams. Die alternativlose Abschottung gegenüber nennenswerter Kritik in Sachen Immigration, EU, Euro, Klima, Gender etc. durch rigorose Ausgrenzung sowie Versuche, vieles Umstrittene fast an der Öffentlichkeit vorbei parlamentarisch abzunicken, schade dem Establishment selbst und treibe darüber Erbitterte ins rechte Lager. Auch dem Mainstream habe dies nicht gutgetan. „Als er weit, offen, vielfältig war, war er lebendig. Je enger er wurde, desto moralisch anmaßender und intellektuell langweiliger wurde er.“

So weit, so richtig. Doch bevor diese durch Beispiele belegte Konformismus-Schelte erfolgt, haben die Leser Feststellungen zu ertragen, die schlicht provozieren: „Daß man in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern dürfe, stimmt nicht. So laut Rechte es beklagen, so klar widerlegen sie es. Pegida demonstriert, Sarrazin publiziert, Tichy bloggt, Tellkamp spricht, und die AfD ist in den Parlamenten, in Talkshows und auf der Straße zu hören. Sie alle üben ihr Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit aus, das ihnen kein Gesinnungskorridor, keine Political Correctness, keine von Gutmenschen geschwungene Moralkeule nimmt.“

Systematischer Terror gegen Rechtsalternative

Nun, ließe sich mit dieser tückischen Argumentationsfigur nicht auch belegen, daß es in der DDR kurz vor der Wende in Sachen Freiheit gar nicht so schlimm gewesen sein könne? Aber Schlink setzt noch eins drauf: „Wenn Rechte beklagen, man dürfte in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern, wollen sie nur den Bonus, den Opfer in unserer Gesellschaft genießen, auch für sich reklamieren.“ 

Schlink hat manches Kluge zur hiesigen Befindlichkeit geschrieben, insbesondere zur „Kultur der Denunziation“. Aber diese Feststellung ist eine Zumutung, getragen von peinlicher Sehschwäche als Folge zu großer Distanz von den häßlichen Niederungen des Alltags. Insofern wünschte man ihm zur diagnostischen Nachhilfe eine einzige Woche Rollentausch mit einer der alternativen „Unpersonen“, auf die unsere politisch-mediale Klasse unisono so lustvoll einprügelt. Wenn auch er einmal bei nonkonformistischen Äußerungen, Kundgebungen oder Parteitagen angepöbelt, bespuckt oder körperlich behelligt würde, schwadronierte er gewiß nicht mehr vom „Genuß“ der Opferpose. Er ahnte dann wenigstens, was ausgegrenzte Familien durchstehen, deren Häuser beschmiert oder Autos abgefackelt werden. Er wüßte von rechtswidrig veröffentlichten Mails, Adressen, skandalösen Kontenkündigungen oder Hausdurchsuchungen. Und er könnte erfahren, was praktisch die gesamte hiesige Journaille verschwieg, wie jüngst in Halle, behördengestützt, der „antifaschistische“ gewaltgeile Mob gleich ein halbes Dutzend Grundrechte außer Kraft setzte. 

Doch weiter in Schlinks Text, der auch eine aktuelle Umfrage zitiert, wonach sich die große Mehrheit der Deutschen vor „politisch korrekten“ Behelligungen nur mehr im privatesten Kreis gesichert fühlt. Daran aber – behauptet Schlink in kaum zu rechtfertigender Naivität – sei nicht der Staat schuld, sondern lediglich eine – letztlich aus respektablen Gründen erklärbare – Überreaktion von Politik und Gesellschaft. Staatliche Eingriffe in freiheitliche Grundrechte hingegen (wie etwa das Wunsiedeler Kundgebungsverbot des Bundesverfassungsgerichts zum Gedenken an Rudolf Heß) seien seltene Ausnahmen. „Die Behörden achten die Versammlungsfreiheit, und wenn sie doch eine Demonstration verbieten, heben die Gerichte das Verbot oft auf. Mit der Klage, man dürfe in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern, hat es auch nichts auf sich, soweit es um die Betreiber sozialer Netzwerke geht.“

Schlink ist ein renommierter Schriftsteller und Rechtsprofessor. Aber diese (scheinbar von juristischem Sachverstand beglaubigte) Lageskizze wirkt als leichtfertige Apologie, die zwischen glattpolierter Justizfassade und tatsächlicher verstörender Rechtspraxis nicht unterscheidet. Man darf allerdings nicht so anspruchslos sein, Volldiktaturen zum Maßstab zu nehmen. Zwar haben wir keine offizielle Zensur wie unter Metternich und Co., sondern vornehmlich eine mit fast allen Mitteln operierende „zivilgesellschaftliche“. Wir schicken auch (noch) nicht kollektiv wie im Zuge der Karlsbader Beschlüsse angebliche „Demagogen“ auf Festungen. Aber es hagelt auch hier für „populistische“ Gedankenverbrecher Geld- und Gefängnisstrafen sowie faktisch Berufsverbote. Eine einseitig politisierte Justiz arbeitet sich vorwiegend an „rechten“ Propagan-dadelikten ab, während der systematische Terror gegen Rechtsalternative weitgehend ungeahndet bleibt oder äußerst milde sanktioniert wird. Ein warnender Statistiker wie Emil Gumbel, der in den 1920ern die Rechtslastigkeit gerichtlicher Urteile schlagend nachwies, müßte heute das Umgekehrte konstatieren.

Zwar gibt es in schreienden Fällen gelegentlich höchstrichterliche Korrekturen wie vom Leipziger Verfassungsgericht, das der unverfrorenen Benachteiligung der AfD durch die sächsische Wahlleitung Grenzen setzte. Auch rügte das Bundesverfassungsgericht, daß Herr Haldenwang auf Geheiß seiner Arbeitgeber allzu forsch die AfD ins Visier nahm und diesen Vorgang auch noch rufschädigend hinausposaunte. Doch was sind solche sporadischen Reparaturen gegenüber galoppierenden juristischen Einschränkungen des Meinungskorridors. Denn mit einem ständig erweiterten Paragraph 130 Strafgesetzbuch wurden Tatsachen und atmosphärische Rahmenbedingungen geschaffen, die fast vergessen lassen, welche umfassenden Äußerungsmöglichkeiten ein ernstgenommenes Grundgesetz eigentlich gewährt.

Definitorische Unschärfe begünstigt Machtwillkür

Hinzu kommen rechtsstaatliche Mißgeburten wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das (halb-)staatlicher politischer Einflußnahme Tor und Tür öffnet. Die Justiz einer Demokratie ist jedoch nicht dazu da, regierungsunfreundliche Emotionen, Geschmacksniveaus, Welt- oder Geschichtsbilder zu verhindern, sondern die Einhaltung elementarer Spielregeln zu garantieren, nach denen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. 

Auch sollte es einen Professor des Öffentlichen Rechts schaudern vor der gerichtlichen Entfaltung eines „Gutmenschentums“, das im Tugendterrorismus endet. Konkret zum Beispiel vor der verfassungsrechtlichen Kontaminierung des ehemals selbstverständlichen ethnischen Volksbegriffs oder der uferlosen Ausdehnung von Gesinnungstatbeständen wie „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, „Haß“ und „Hetze“, deren gummihafte definitorische Unschärfe fast jeglicher Machtwillkür Tor und Tür öffnet und durch EU-Recht noch verschärft zu werden droht. Die dahinterstehende Rechtsphilosophie ist verhängnisvoll und anmaßend. Selbst in einer Zeit, als der (linke) Terrorismus noch eine weit größere mörderische Dimension entfaltete, widersprach mein damaliger Juraprofessor vehement dem Kurzschluß, aus Fundamentalkritik straf- oder verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit abzuleiten. 

Wenn also eine dezidiert gewaltfreie Bewegung wie die Identitären durch einen liebedienerischen Verfassungsschutzpräsidenten als „extremistisch“ eingestuft wird, sollten alle demokratischen Alarmsirenen schrillen. Desgleichen wenn dafür bereits Indizien taugen wie der zweifellos vereinfachende, aber erhellend pointierende Slogan „Multikulti tötet“. Solche Obrigkeitssicht wittert ja schon unzulässige „Feindbilder“, wo gegen den UN-Migrationspakt agitiert wurde, den die Regierung, nur durch die AfD gehindert, ursprünglich am Volk vorbei ratifizieren wollte. 

Hat sich Bernhard Schlink, der solche Gesinnungsherrschaft nicht für erwähnenswert hält, eigentlich verdeutlicht, wie dadurch nennenswerte Kritik am aktuellen Politkurs praktisch illegalisiert wird? Oder schaut er da einfach weg und ignoriert die Paradoxie, daß sich die vielbeschworene Demokratie durch so strangulierende Redevoraussetzungen selbst außer Kraft setzt und die momentan größte Rechtsstaatsgefährdung von sogenannten Verfassungsschützern ausgeht? 

Eine andere Erklärung deutet Schlinks irreführende Anfangsthesen lediglich als Salvationsklauseln gegenüber seiner nachfolgenden Kritik an unserer politisch-medialen Klasse. Vielleicht sind solche Vorreden inzwischen ja schlicht unerläßlich, um in „Qualitätsmedien“ überhaupt noch publizieren zu dürfen? Doch was bleibt von einer Kritik, wenn sie durch kontradiktorische Behauptungen so weitgehend entwertet wird?