© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Zeitschriftenkritik: Exit!
Wertabspaltungskritik als neue Lehre vom Sein
Jens Knorr

In der diesjährigen Ausgabe der Zeitschrift exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft sollen unter anderem „verschiedene ideologische Verwerfungen kritisiert werden, wie sie, gerade heute, in Zeiten sich immer verschärfender sozialer Lagen zunehmend manifest und wirkmächtig werden“. Die Verwerfungen zeigen sich für Redaktion und Autoren in einer „angestrebten Renaissance der nationalstaatlichen Souveränität“, „in einer ‘Theologisierung’ des postmodernen Zeitgeistes“ bei den Philosophen Alain Badiou und Giorgio Agamben und im Zusammenfall von „Nationalsozialismus/Faschismus“ mit der „Demokratie als Organisationsform des Kapitalismus“.

Gerd Bedszent gibt einen historischen Abriß über „Staatsgewalt vom Beginn der Neuzeit bis heute – Der Nationalstaat als Geburtshelfer und Dienstleister der Warenproduktion“. Der Zusammenhang zwischen Staat und Warenproduktion stellt sich als von der Rechten wie der Linken unbegriffener dar, der Kampf neoliberaler Ideologien gegen ihren eigenen Geburtshelfer als „Kampf gegen die eigene Vergangenheit“. „Der Nationalstaat und seine Gewaltapparate“, so Bedszent, „werden von rechtsradikalen Ideologen nicht als Bestandteil und Werkzeug der Warenwirtschaft begriffen, sondern als vermeintlich übergeordnete Instanz vergottet.“ Eine „Rückkehr zum repressiven Etatismus der frühkapitalistischen Ära“, als „Antikapitalismus“ camoufliert, könne es nicht mehr geben.

Roswitha Scholz führt ihre „Überlegungen zu einem 25 Jahre alten Text“ des Ökonomen Robert Kurz „‘Die Demokratie frißt immer noch ihre Kinder’ – heute erst recht!“ kaum über diesen hinaus. Statt an und mit „Realkategorien“ zu arbeiten, behelfen sich Scholz & Friends mit Begriffen aus Biologie („Verwilderung“ – in Verkehrung der tatsächlichen Bedeutung des Begriffs) oder Psychiatrie („Verwahrlosung“).

Herbert Böttcher stellt sich einer „philosophischen Flucht in paulinischen Messianismus“ entgegen, die er aus Badiou und Agamben herausgelesen haben will, doch wohl in Agambens Überlegungen zum Römerbrief hineingelesen hat. Ein Denken derjenigen Potenz (des Vermögens), die zu Potenz und Impotenz gleichermaßen fähig ist, desjenigen Seins, das jeder repräsentierbaren Identität entbehrte, entwertet Böttcher als „‚radikale‘ Affirmation“. Böttcher versucht sowohl die Philosophie Agambens der Wertabspaltungskritik einzuverleiben, als auch deren Urheberschaft zu beanspruchen, Ontologie gegen Historie auszuspielen, um die Wertabspaltungskritik als eine Neue Ontologie zu setzen – die sie aber auch wieder nicht sein soll.

Diesseits von Gender-Gaga und Anti-Gender-Gaga fragt Thomas Meyer nach der Historizität des Phänomens Transsexualität und den nur auf den ersten Blick diametralen Strategien beider Lager, verschiedene Körper der gesellschaftlichen Norm anzupassen und nicht die gesellschaftliche Norm den verschiedenen Körpern.

Wer die Warengesellschaft kritisieren will, muß zuvörderst nichtwarenförmig denken und schreiben lernen. Wollen sie es überhaupt?

Kontakt: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft“, zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe. Das Einzelheft kostet 22 Euro, im Abonnement 17 Euro.

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