© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Gegner und Feind – Anmerkungen zu zwei Kategorien des Politischen
Die neue Verfeindung
Ludwig Witzani

Nichts offenbart die Natur eines politischen Systems prägnanter als die Art und Weise, wie mit Unterlegenen umgegangen wird. Nach ihrem Sieg über die ägyptischen Mamluken machten die Türken im Jahre 1517 kurzen Prozeß. Selim I. ließ seinen Widerpart, den letzten Mamlukensultan Tuman Bey, vor aller Augen am großen Stadttor von Kairo wie einen gewöhnlichen Verbrecher aufhängen.

Ganz anders acht Jahre später in Pavia. Kaiser Karl V. errang 1525 mit seinen spanisch-deutschen Truppen einen so vollständigen Sieg über die Franzosen, daß ihm sogar der französische König Franz I. in die Hände fiel. Franz I. wurde in ehrenvoller Haft nach Spanien gebracht und im Herbst des gleichen Jahres auf Ehrenwort freigelassen. Keine Sekunde dachte Kaiser Karl V. da-ran, den französischen König etwa auf dem Marktplatz von Brügge öffentlich aufzuhängen.

Der Unterschied, der bei diesen beiden Ereignissen zutage tritt, kann nicht allein durch die Gegensatzpaare Orient/Okzident oder Islam/Christentum erklärt werden. Es geht um ganz fundamentale Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung politischer Aktionsträger, die weit über diese Epochen hinausweisen: Es geht um den Unterschied von Gegner und Feind.

In vordemokratischen, despotischen oder tribalistischen Gesellschaften war die Feindschaft der Normalfall. Schon in Thukydides’ Melier-Dialog wird diese Grundtatsache sehr prägnant beschrieben. Für die Athener waren die Melier Feinde, die nur die Wahl hatten zwischen Unterwerfung oder Tod, denn, so die Athener, „der Stärkere geht, so weit er kann“. Selbst für hochgestellte Feinde gab es in diesem Kontext keinen Prominentenbonus. Cäsar ließ den gallischen Volkshelden Vercingetorix nach seinem Triumphzug in Rom einfach erdrosseln, die siegreichen Parther sollen dem römischen Feldherrn Crassus siedendes Gold in den Mund gegossen haben. Auch der expandierende Islam als politische Religion betrachtete die Ungläubigen als Feinde, mit denen man sich nicht auf Augenhöhe auseinanderzusetzen brauchte. „Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt“, heißt es in der Sure 47, 4 des Koran.

Ehrlicherweise muß man zugeben, daß christliche Kreuzfahrer sich gegenüber unterlegenen Moslems nicht anders verhielten. Die Sonderstellung Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen und Sultan Saladins innerhalb ihrer Epochen ergab sich gerade daraus, daß sie wenigstens partiell ihre Antagonisten nicht als Feinde, sondern als Gegner auf Augenhöhe behandelten.

Das änderte sich erst in der Epoche der europäischen Neuzeit, in der sich Staaten, etwa im Rahmen der europäischen Pentarchie, wenigstens ansatzweise als gleichberechtigt anerkannten. Das in der gleichen Epoche entstehende Völkerecht war über die unterschiedlichsten Zwischenstationen zugleich Motor und Reflex dieser „Entfeindung“. Die Vereinten Nationen unserer Tage repräsentieren in all ihrer Unvollkommenheit den Endpunkt dieser Entwicklung. Die UN ist eine Versammlung politischer Gegner, die sich zur Beachtung völkerrechtlicher Mindeststandards verpflichten, nicht politischer Feinde, denen jedes Mittel recht ist. Daß einige ihrer Mitglieder, wie etwa der Iran das UN-Mitglied Israel, noch immer als einen zu vernichtenden Feind ansehen, macht die Friedenssicherung nur um so schwieriger.

Zwei Merkmale definieren die Grenze zwischen Verfeindung und Gegnerschaft: die Bereitschaft zur gewaltfreien Auseinandersetzung nach rechtlich fixierten Regeln und die Separierung von Privatsphäre und Familie aus dem politischen Streit.

Dieser Unterschied von Gegner und Feind ist auch für das Verständnis innenpolitischer Gegensätze aufschlußreich. An sich sollte die Zugehörigkeit zum gleichen politischen Verband extreme Feindschaften unter den Akteuren verhindern. Daß dies nicht so ist, lehrt jeder noch so flüchtige Blick in die Geschichte. Noch heute erinnern die Geschlechtertürme der italienischen Renaissance an die tödliche Gefahr, in der die führenden Familien jener Epochen unter ihresgleichen lebten. Vorgänge wie die Pazzi-Verschwörung 1478, bei der der Medici Lorenzo il Magnifico im Dom von Florenz niedergemetzelt werden sollte, waren in der Renaissance keine Seltenheit. Die europäische Reformation kann für sich den traurigen Ruhm in Anspruch nehmen, die innenpolitische Feindseligkeit bis zum Exzeß gesteigert zu haben, man denke nur an die Bartholomäusnacht von 1572, in der Tausende Hugenotten abgeschlachtet wurden.

Demgegenüber bedeutete die Verwandlung des „Feindes“ in einen „Gegner“, so wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert innerhalb politischer Gemeinwesen langsam herausbildete, einen zivilisatorischen Fortschritt, den man nicht hoch genug einschätzen kann.

Am prägnantesten wurde diese Entwicklung von dem englischen Philosophen John Locke formuliert, der auf der Grundlage des Naturrechts und der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen die These entwickelte, daß jedem Menschen als Person vorpolitische, „natürliche“ Rechtsqualitäten eigen sind. Der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 blieb es vorbehalten, daraus den politisch relevanten Schluß zu ziehen, indem sie die Legitimität des Staates an seine Fähigkeit koppelte, die „unveräußerlichen“ und „natürlichen“ Rechte jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Verfolg des Glücks zu schützen und zu gewährleisten.

Aus dieser Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Individuum erwuchs eine Neubestimmung des Verhältnisses der politisch handelnden Personen untereinander. Politische Protago-nisten waren nun keine „Feinde“ mehr, sondern „Gegner“, das hieß, im Idealfall politische Widersacher, deren Ziele man bekämpfte, ohne ihren Protagonisten nach Leib und Leben zu trachten.

Zwei Merkmale sind es vor allem, die die Grenze zwischen Verfeindung und Gegnerschaft definieren: die Bereitschaft zur gewaltfreien, argumentativen Auseinandersetzung nach rechtlich fixierten Regeln und die Separierung von Privatsphäre und Familie aus dem politischen Streit. Freilich: Diese Standards wurden in der Praxis des politischen Kampfes vielfach mißachtet. Das änderte aber nichts daran, daß sich diese Normen, wenngleich von Land zu Land in unterschiedlichem Ausmaß, schließlich durchsetzten.

Selbst im halbdemokratischen deutschen Kaiserreich wurden die Führer der zwischen 1878 und 1890 verbotenen Sozialdemokratie nicht eingekerkert, sondern sie zogen ins Schweizer Exil um, von wo aus sie mit Freifahrscheinen der Deutschen Reichsbahn regelmäßig nach Berlin fahren durften, um an den Reichstagssitzungen teilzunehmen. Dementsprechend wurde Wilhelm II. während der deutschen Revolution nicht in einem Keller mitsamt seiner Familie erschossen, sondern er konnte unbehelligt ins holländische Exil gehen. Ganz anders in Rußland mit seiner ungebrochenen despotischen Tradition: Dem „Blutsonntag von St. Petersburg“ 1905, bei dem der Zar auf das hungernde Volk schießen ließ, entsprach die Ermordung des Zaren samt seiner Familie im sibirischen Jekaterinburg 1918 durch Tschekisten.

Die Unterscheidung von Gegner und Feind ist auch hilfreich bei der Deutung eines oft mißverstandenen Wortes von Rosa Luxemburg, nach der die Freiheit „immer die Freiheit des Andersdenkenden“ sei. Luxemburg meinte damit ausdrücklich nur die Freiheit ihrer politischen Gegner innerhalb der kommunistischen Partei. Die Akteure der alten bürgerlichen Gesellschaft waren für sie Feinde, gegen die sie die Anwendung von Gewalt ausdrücklich befürwortete. Es kennzeichnet die Krise der europäischen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg, daß Kommunisten und Nationalsozialisten die Einhegung der politischen Gewalt durch die Kultur der Gegnerschaft wieder zerschlugen. Hannah Arendt hat diese Re-Barbarisierung der politischen Sitten mit ihrem Begriff des „objektiven Feindes“ sehr eindringlich analysiert.

Vor diesem Hintergrund erscheint die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte im Rückblick fast wie ein Idyll. Im Unterschied zur DDR, in der Andersdenkende bis kurz vor der Wendezeit als „Feinde des Sozialismus“ notfalls physisch vernichtet wurden, entwickelte der bundesrepublikanische Politikbetrieb tragfähige und zivilisierte Formen der politischen Auseinandersetzung. Das politische Alltagsgeschäft in Bonn war spannungsreich und voller Gegensätze, verlief aber, von einzelnen Entgleisungen abgesehen, im Medium des argumentativen Streits und der demokratischen Mehrheitsentscheidung. Daß der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher die Auseinandersetzung mit Konrad Adenauer sehr oft bis ins Persönliche zuspitzte, wird ihm insgesamt mehr geschadet als genutzt haben.

Eine der kostbarsten Errungenschaften der politischen Kultur, die grundrechtlich abgesicherte zivilisierte politische Gegnerschaft, die sich bei Wahrung persönlichen Anstands gewaltlos in Debatten auslebt, ist dabei, zu verschwinden.

Die Fraktionsvorsitzenden der SPD und der Union während der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969, Helmut Schmidt und Rainer Barzel, waren politische Gegner, entwickelten aber zugleich gegenseitige Achtung und Freundschaft. Mochten die Abgeordneten als politische Gegner auch heftig miteinander streiten, so waren sich die meisten nicht zu schade, nach der Plenarsitzung mit ihren Widerparts ein Bier zu trinken oder im „FC Bundestag“ zu kicken.

Diese glücklichen Zeiten sind vorüber. Seit der großen Zeitenwende von Globalisierung und Massenmigration und der Bildung neuer oppositioneller Parteien in nahezu allen westlichen Demokratien hat sich die politische Auseinandersetzung in besorgniserregender Weise verschärft. Die rechts- und linksradikalen Ränder, für die es jenseits ihrer eigenen Bunker ohnehin nur Feinde gibt, sind größer geworden. Der Anschlag auf den Bremer AfD-Abgeordneten Frank Magnitz und die Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke legen davon ein trauriges Zeugnis ab.

Noch bedenklicher aber ist, daß ein neues Feinddenken in der sogenannten „politischen Mitte“ Einzug gehalten hat. Politische Selbstverständlichkeiten, die in einer funktionierenden Demokratie unter politischen Gegnern üblich sind, wie etwa die Kooption in parlamentarische Gremien, die angemessene Repräsentanz in den öffentlich-rechtlichen Medien und gesellschaftlichen Verbänden, wurden außer Kraft gesetzt. Noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg wurde einer demokratischen Partei mit Hilfe der allgegenwärtigen Nazi-Keule so konsequent die inhaltliche Auseinandersetzung verweigert, während gleichzeitig ihre Mandatsträger von linksradikalen Schlägerbanden bis in den privaten Bereich hinein verfolgt werden.

Kein deutscher Bundestagsabgeordneter hat diesen Stil der neuen „Verfeindung“ derart bedrohlich zum Ausdruck gebracht wie der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs am 12. September 2018 vor dem Bundestag. Jeder, der diese Haß-Rede hörte, spürte, daß hier ein Politiker den Beschimpften nicht nur den Diskurs verweigerte, sondern ihnen ihre Würde in einer Weise absprach, die an die dunkelsten Zeiten des deutschen Parlamentarismus erinnerte. Ganz bewußt auf das Persönliche zielend, beschimpfte er die Abgeordneten der AfD als „unappetitlich“ und „peinlich“ und fügte hinzu: „Man muß sich diese Traurigen da nur angucken, und dann weiß man, von denen sind keine Lösungen zu erwarten, sondern nur Spaltung, Hetze und alles das, was bei denen dazugehört. Haß macht häßlich – schauen Sie in den Spiegel.“ Daß ein Abgeordneter des Bundestages seine eigene Verhetztheit derart unverhüllt auf seine Gegner projizieren durfte, ohne vom Sitzungsleiter gerügt zu werden, läßt für die Zukunft nichts Gutes erwarten.

Insofern ist es nur konsequent, wenn neototalitäre Stichwortgeber wie der CDU-Staatssekretär Peter Tauber fordern, den politischen Widersachern vom „rechten Rand“ die Grundrechte nach Artikel 18 des Grundgesetzes gleich ganz abzuerkennen.

Eine der kostbarsten Errungenschaften der politischen Kultur, die grundrechtlich abgesicherte zivilisierte politische Gegnerschaft, die sich bei Wahrung persönlichen Anstands gewaltlos in Debatten und Argumentationen auslebt, ist dabei, zu verschwinden. In ihrer panischen Angst vor Mandatsverlusten schrecken die Funktionsträger der ehemaligen Volksparteien nicht davor zurück, das gesamtgesellschaftliche Klima mit einem Ausmaß an politischer Feindschaft zu vergiften, von dem man geglaubt hatte, sie wäre für alle Zeiten im Orkus der Geschichte verschwunden. 






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Reiseschriftsteller und Autor einer bislang zehnbändigen Weltreise-Reihe mit Einzelbänden über Tibet, Indien, Argentinien/Chile, Osteu­ropa, Indochina, Iran, Alaska, Süd- und Nordafrika sowie Indonesien. Auf dem Forum beschrieb er zuletzt drei Arten der Zuwanderung und die Lehren aus der Geschichte („Selten wertvoller als Gold“, JF 38/18).

Foto: Wenn Worte töten könnten:Die Verwandlung des Feindes in einen politischen Gegner seit dem 18. Jahrhundert bedeutete einen großen zivilisatorischen Fortschritt. Vor dem aktuellen Hintergrund der Dämonisierung von Opposition degeneriert die Kultur politischer Auseinandersetzung in besorgniserregender Weise.