© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Mehr Zufall als Plan
Der Militärhistoriker Heinz Magenheimer untersucht deutsche und alliierte Schlüsselentscheidungen, die den Verlauf des Zweiten Weltkriegs bestimmten
Stefan Scheil

Es sind alte Fragen, ob und wann im Krieg der Zufall oder die Planung überwogen hat. Dazu kommt, daß die Planung nicht selten eine spätere Konstruktion ist, die logisch aussehen läßt, was der Zufall vorher diktiert hat. Verbreitet wird sie von denen, die sich den Sieg zuschreiben möchten, oder von denen, die einen Vorwurf für andere zusammenbasteln. Auf die Unterstellung, er habe einen Angriffskrieg vorbereitet, soll Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt in US-Gefangenschaft jedenfalls geantwortet haben: „Wenn ich einen Angriffskrieg vorbereitet hätte, säßen Sie heute nicht hier!“

Sowohl deutsche als auch alliierte Perspektiven

Das Verhältnis von Planung und Zufall gehört zu den heimlichen Hauptthemen der vorliegenden Studie. Heinz Magenheimer stellt sie unter den Kontrast zweier Eingangszitate. Eines nimmt er aus einem Handbuch der Bundeswehr, das Zufall als das „Wesen des Krieges“ bezeichnet. Ein anderes vom chinesischen Kriegsphilosophen Sunzi, der die Ansicht vertrat, wirklich Weise wüßten schon vor der Schlacht immer den Ausgang. Magenheimer steht gedanklich eher bei der Bundeswehr: es sei noch nie ein Krieg tatsächlich von Anfang entschieden gewesen. Die Weltgeschichte sei voll von Beispielen, in denen der bei weitem Schwächere letztlich doch den Erfolg davongetragen hätte. Dem wird man allgemein zustimmen können. 

Der als promovierter Militärhistoriker und langjähriger Mitarbeiter der österreichischen Landesverteidigungsakademie bekannte Autor bietet einen Gesamtüberblick über die deutsche Operationsgeschichte zwischen 1939 und 1945. Dabei bleibt er nicht in der deutschen Perspektive stecken, sondern erläutert immer wieder auch die Entscheidungsprozesse im gegnerischen Lager, auf die man in Deutschland reagieren mußte.

Ein umfangreicher Kartenteil mit einundzwanzig Darstellungen ist dem Band beigefügt. Der Text wird gelegentlich durch statistische Auflistungen der verschiedenen Militärstärken ergänzt, besonders umfangreich in einem Vergleich der deutschen mit der sowjetrussischen Truppenstärke im Sommer 1941. Magenheimer hält in Zusammenhang mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR und deren eigenen Vorbereitungen an seiner Bewertung fest, es handle sich um einen Krieg „zweier Angreifer“. 

Magenheimer schreibt mit gewisser, aber nicht unangemessener Leidenschaft und versucht sich immer wieder in die Akteure hineinzuversetzen. Ob eine Entscheidung aus damaliger Sicht erkennbar falsch war oder sich erst durch Entwicklungen als Verhängnis herausstellte, die zum ihrem Zeitpunkt noch nicht absehbar gewesen sind, dazu bezieht er wiederholt Stellung. 

Was sind denn nun mögliche Wendemarken, an denen die zu Beginn als offen angenommene Situation sich in eine für Deutschland aussichtslose verwandelte? Magenheimer nennt besonders zwei davon: Zum einen die Entscheidung, die 1940 bei Dünkirchen eingeschlossenen britischen Truppen nicht sofort energisch anzugreifen, was er als „wahrscheinlich schwersten Fehler“ der deutschen Kriegsführung bezeichnet. Als nicht gar so schwer, aber gleichfalls wesentlich, wertet er den Entschluß, nach dem Sommer 1940 nicht selbst im Mittelmeer militärisch einzugreifen. Das zweite klingt für den Rezensenten schlüssiger als das erste. Ob eine Invasion in Großbritannien bei einem Totalerfolg in Dünkirchen mit jener Sicherheit möglich gewesen wäre, wie Magenheimer annimmt, scheint zweifelhaft. Auf deutscher Seite fehlten die Transportmittel zur See, auf britischer Seite konnte man in jedem Fall weiter über eine ebenbürtige Luftwaffe und eine um ein Vielfaches überlegene Marine verfügen.

Mittelmeerstrategie hätte England gefährden können

In der Tat war eine deutsche Mittelmeer- und Nordafrika-Strategie jedoch genau das, was man in London 1940 wirklich fürchtete, mehr als die Invasion. Deutsche Truppen in Tunis, in Marokko, an der nordafrikanischen Atlantikküste und der Straße von Gibraltar: sie hätten das Mittelmeer für Großbritannien gesperrt. Sie hätten garantiert, daß andere deutsche Einheiten wohlversorgt in Richtung Ägypten und noch weiter vordringen können und selbst den britischen Schiffsverkehr auf dem Atlantik zu gewaltigen Umwegen gezwungen.

Niemand kann sagen, ob auf diesem Weg eine letztliche deutsche Niederlage vermeidbar gewesen oder ein paar Jahre später nach einem trotzdem stattgefundenen Kriegseintritt von USA und UdSSR doch eingetreten wäre. Dies stellte letztlich eine politische Frage dar. Aber es ist evident, daß der Krieg in diesem Fall einen völlig anderen und zunächst einmal für Deutschland wesentlich günstigeren Verlauf genommen hätte. Die tatsächlichen Ereignisse ließen für Großbritannien die Möglichkeit, den Mittelmeerraum durch die schwachen italienischen Aktivitäten zunehmend ungehindert für sich zu nutzen und ein Szenario vorzubereiten, das letztlich die deutschen Truppen nicht nach Marokko, sondern auf den Balkan zwang. Als die Zeit reif war, landeten in Marokko dann keine deutschen, sondern US-amerikanische Einheiten. Magenheimer zeigt diese Zusammenhänge schlüssig auf.

Alle diese Entscheidungen wurden auf deutscher Seite erst während des Krieges getroffen. Magenheimer wendet sich daher ausdrücklich gegen die Annahme eines deutschen „Stufenplans“ zu Welteroberung, wie er ohne Quellenbelege seit den 1960er Jahren zunächst vom Historiker Andreas Hillgruber populär gemacht wurde.

Interessanterweise gibt es ein entsprechendes Gedankenspiel von Seiten der britischen Kriegsplaner. Admiral Reginald Drax, der Leiter der entsprechenden Abteilung, führte es 1938 durch. Man wisse ja nicht, ob es nicht doch einen gemeinsamen deutsch-italienisch-japanischen Plan zur Eroberung des britischen Empire gebe, meinte er. Also sei vorsichtshalber durchzurechnen, wie er aussehen könnte und ob er gefährlich sei. Letzteres wurde bejaht. Laut diesem internen Gutachten hätte ein solcher Eroberungsplan der Antikominternstaaten erfolgreich sein können, wenn sie tatsächlich aufeinander abgestimmt agiert hätten.

Nun, es gab unter diesen drei Staaten weder einen Gesamtplan noch eine Koordination der Operationen, die über gelegentliche deutsche Rücksichtnahme auf italienische Empfindlichkeiten hinausgegangen wäre. Selbst eine vorausgegangene deutsche Angriffsplanung fehlte, sei es von Rundstedt oder von anderen. Im Zweiten Weltkrieg überwog militärisch gesehen deshalb wohl der Zufall. Das wird in dieser empfehlenswerten Studie deutlich.

Heinz Magenheimer: Die deutsche militärische Kriegführung im II. Weltkrieg – Feldzüge, Schlachten, Schlüsselentscheidungen, Osning Verlag, Garmisch-Partenkirchen 2019, gebunden, 324 Seiten, 34 Euro