© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Der Flaneur
Klassik auf der Baustelle
Bernd Rademacher

Moggeeen!“ schallt es durchs offene Fenster. Damit ist klar: Der Schlaf ist vorbei, die Dachdecker gegenüber fangen an. Eigentlich hätte ich gerne noch weitergeschlafen. Schließlich sind Ferien, und bei der Affenhitze schläft man erst in den frühen Morgenstunden richtig ruhig, wenn wenigstens ein kleines Lüftchen durchs Zimmer streicht.

Doch schon rumpelt und rattert der Aufzug für die Dachziegel. Zwischendurch das rhythmische „Zump!“ der Nagelpistole. Doch die lauteste Schallemissionsquelle ist noch nicht einmal in Betrieb: das Baustellenradio. Nichts gegen ehrliche Arbeit und Handwerk, aber es ist schier unerträglich, den ganzen Tag mit stupidem Popgedudel von WDR4 oder EinsLive bedezibelt zu werden. Inklusive dümmlicher Radiowerbung und sich ständig wiederholender nervtötender Jingles. Das Baustellenradio ist die Pest, ein akustisches Besatzungsregime. 

Sind das Studenten, die angesichts des Handwerkermangels umsatteln?

Doch was ist das? Ich muß ans Fenster, um mich zu überzeugen, daß es wahr ist, was ich höre. Tatsächlich! Das Radio auf dem Dachgerüst spielt klassische Musik. Kein WDR4, kein EinsLive, es ist Klassik. Das ist wie das Rätselspiel in der Sesamstraße: „Welches der Dinge paßt nicht zu den anderen?“ Ich kenne das Musikstück nicht, aber die Melodie plätschert gefällig mit Holzblasinstrumenten dahin. Was sind denn das für Bauarbeiter? Hochschulabsolventen, die mit Müh’ und Not doch noch ein nützliches Handwerk erlernt haben, um der Akademikerschwemme zu entgehen? Arbeitslose Dirigenten aus Osteuropa, die nun in Deutschland Dächer decken müssen, um über die Runden zu kommen? Meine Phantasie galoppiert über Stock und Stein. 

Fasziniert betrachte ich die surreale Szene und vergesse leider, mit dem Smartphone ein Video davon aufzunehmen. Da passiert es: Einer der Malocher wechselt im Vorbeigehen mit einem Knopfdruck den Sender – und es ertönt das spätpubertäre Genöle von „Revolverheld“. Also zurück in die Realität.