Mit seinen 709 Abgeordneten ist der 19. Deutsche Bundestag größer als alle seine Vorgänger. Voll besetzt ist das Plenum indes nur sehr selten. Aber wie viele seiner Mitglieder müssen anwesend sein, damit das Parlament beschlußfähig ist? Eigentlich nicht viele – solange keiner die Beschlußfähigkeit in Frage stellt. Tun das jedoch vor einer Abstimmung fünf Prozent der Anwesenden oder eine Fraktion, dann muß gezählt werden – und am Ende müssen laut Geschäftsordnung „mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend“ sein, aktuell also mindestens 355. Gezählt wird nach dem sogenannten Hammelsprung: die Abgeordneten verlassen den Plenarsaal und werden beim Wiedereintreten gezählt. Bei der Bundestagssitzung in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni waren gegen 1.30 Uhr geschätzt ungefähr hundert Abgeordnete im Plenarsaal. Daraufhin beantragte die AfD-Fraktion, die Beschlußfähigkeit zu prüfen. Der Sitzungsvorstand – zu diesem Zeitpunkt Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sowie ein CDU- und ein FDP-Abgeordneter als Schriftführer – stellte jedoch in kürzester Zeit fest, daß der Bundestag beschlußfähig sei und lehnte einen Hammelsprung ab.
Dagegen hat die AfD nun einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht gestellt, weil sie die Rechte des Parlaments verletzt sieht. Mit ihrem Vorgehen will die AfD erreichen, daß drei in der fraglichen Sitzung beschlossene Gesetze (etwa das „Zweite Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz“) nicht vom Bundespräsidenten unterzeichnet und im Gesetzblatt veröffentlicht werden. Denn nach Meinung der Fraktion sind sie nicht verfassungskonform zustande gekommen. Parallel hat die AfD Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier förmlich ersucht, die fraglichen Gesetze nicht zu unterzeichnen. Der Rechtsvertreter der AfD-Bundestagsfraktion, Ulrich Vosgerau, sprach in diesem Zusammenhang von „Geistergesetzen“. Das Bundespräsidialamt antwortete, die fraglichen Gesetze seien dem Staatsoberhaupt noch gar nicht vorgelegt worden.
Für Staatsrechtler Vosgerau steht fest, daß der Sitzungsvorstand „kontrafaktisch“ eine Beschlußfähigkeit festgestellt habe, die offensichtlich nicht bestand. Dies sei ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung. Denn die Möglichkeit, die Beschlußfähigkeit einmütig zu bejahen, sei nur dafür da, einen Mißbrauch des Hammelsprungs zu verhindern, wenn der Bundestag offenkundig beschlußfähig ist. Der Justitiar der AfD-Bundestagsfraktion, Stefan Brandner, sprach von einem „Abgrund des Parlamentarismus“. Offensichtlich habe Roth aufgrund der vorgerückten Stunde die Abstimmung partout durchziehen wollen. Brandner betonte, die AfD plädiere schon lange für mehr Sitzungswochen, um solche Nachtsitzungen zu vermeiden.
Das Argument, die Mehrheiten für die fraglichen Gesetze seien bereits vorher in den Ausschüssen klar geworden, es habe sich nur noch um eine formale Abstimmung gehandelt, wies Brandner zurück: „Dann könnten wir uns die Abstimmungen im Plenum ja grundsätzlich schenken und nur noch in den Ausschüssen zusammentreten.“