© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Zu Besuch bei den Sachsen
JF-Reportage zwischen Leipzig und Oberlausitz: Wie steht es um Land und Leute? Stadt und ländlicher Raum fallen auseinander
Martina Meckelein

Auf dem Flaschenöffner ist „Leipzig the better Berlin“ als Sinnspruch zu lesen. „Na ja“, sagt der ungenannt bleiben wollende Mann in den Vierzigern, „es ist hier auf dem besten Weg dazu“, und zeigt die Karl-Liebknecht-Straße entlang. Die KarLi ist 2,5 Kilometer lang und reicht vom Zentrum-Süd bis zum Connewitzer Kreuz. Ein Musterbeispiel der Gentrifizierung. Stadtteilzeitungen jubeln von: „Bunt, bunter KarLi ...“ Touristen speisen in irischen Bierkneipen und albanischen Dönerläden, nippen in Straßencafés Cappuccino für 2,90 Euro. Eingekauft wird in teuren Outdoor-Geschäften. „‘Grünversiffte Südvorstadt’ hat ein Kollege aus Dresden das hier mal genannt“, schmunzelt der Mann.

Im Leipziger Stadtparlament haben Linke und Grüne jeweils 15 Sitze, die SPD 9, die CDU 13, und die AfD sitzt mit 11 Abgeordneten im Plenum. „Hier bei uns hängt nicht ein AfD-Plakat, dafür plakatiert ‘Die Partei’ mit dem Slogan ‘Leipzig raus aus Sachsen’.“ Die kommt auf zwei Sitze. Auf der KarLi läßt es sich gut leben, wenn man mit den Sachsen nichts zu tun haben will. „Ich kenne keinen.“ Am anderen Ende leben die Linksextremisten. „Die fallen hier nicht weiter auf, wollen wohnungstechnisch eher unter sich bleiben.“

Das erfuhren jetzt auch die Clan-Familien aus der Eisenbahnstraße. Dort hat sich vor Jahren die Organisierte Kriminalität niedergelassen, breitet sich seitdem metastasierend in der knapp 600.000 Einwohner zählenden Stadt aus. „Aber bei den Linksextremen haben die keine Chance, die haben der OK gleich die Scheiben mit Farbbeuteln verziert. Die Linken mögen halt niemanden.“ Er selbst will nicht wegziehen. „Warum auch? Ich lebe hier in meiner Blase. Ist eben Großstadt. Ich mag die Weltoffenheit.“

Diese Weltoffenheit mag die alte Dame, die ihren Mann mit den Worten „Setz dich da hin“ im Kommißton auf die Bank im Wartehäuschen plaziert, gar nicht. Der Fahrkartenautomat ist kaputt. „Überall dieser Vandalismus, das sind wir nicht gewohnt.“ Bald sei Wahl, da könne sie etwas ändern. „Hören Sie auf, allen Politikern sind wir egal, dabei sollten die doch für uns da sein.“

Das will Martina Jost (57). Sie dreht das Uhrenarmbad der Stahl-IWC zurecht. Die große Uhr rutscht immer wieder um ihr linkes Handgelenk. „Sie gehörte meinem verstorbenen Mann“, sagt Jost und lächelt dabei fast entschuldigend. Sie sitzt im Garten ihres Hauses, schenkt Kaffee nach und ist ein wenig aufgeregt. „Ich habe noch niemals ein Interview gegeben.“ Die lokale Presse hat sich bisher nicht um die Diplom-Ingenieur-Ökonomin bemüht. Dabei steht sie auf Listenplatz 10 der AfD-Landtagskandidaten in Sachsen, tritt im Wahlkreis 44 in Dresden an.

Ein für die AfD schwieriger Wahlkreis. 74.582 Einwohner leben hier, der Ausländeranteil beträgt 3,3 Prozent, 64,1 Prozent der Bevölkerung sind beschäftigt. So die Strukturdaten. Die CDU hat hier das Sagen. Martin Modschiedler (CDU) machte 2014 das Rennen mit 35,4 Prozent. Jetzt soll Martina Jost den Wahlkreis für die Blauen einnehmen.

„Ich war zuvor noch nie in einer Partei“, sagt Jost. „Zu Ostzeiten, ich bin in Halle geboren, habe ich mich während des Abiturs in der evangelischen Kirche engagiert. Dann studierte ich in Dresden Transporttechnologie. Nach dem dritten Kind hörte ich auf, in meiner alten Firma zu arbeiten, kümmerte mich um die Familie.“ Ihr Mann entwickelte erfolgreich Solarzellen. Martina Jost hatte eine Art Bilderbuchleben, Auslandsreisen, die Villa, gutgeratene Kinder. Eine liberale Zeit-Leserin.

„Wir wollen in Dresden nicht so werden wie Berlin“

„Doch irgendwann hatte ich das Gefühl, hier läuft etwas falsch. Und nein“, sagt sie, „die Flüchtlingskrise war nicht der Grund. Vielmehr hatte ich den Eindruck, daß der Meinungskorridor immer enger wurde, das erinnerte mich an die DDR. Im Grund sind es Mosaiksteine. Mir fiel das erstmals bei meinen Kindern in der Schule auf. Ich bin dann auch schon mal zu Pegida gewesen, hatte aber den Eindruck, es geht nur monothematisch um das eine Thema Flüchtlinge. Die Leute, denen das zu wenig ist, die gehen zur AfD. Das zeigt sich dann auch daran, daß immer weniger bei Pegida mitspazieren.“

2016 trat Martina Jost ein. Seitdem sie Witwe ist, engagiert sie sich stark in der Partei. Jetzt ist sie Landtagskandidatin und in ihrem Haus wieder Leben. Das Erdgeschoß ist Wahlkampf-Kampagnenbüro und abendlicher Treffpunkt. Abwechselnd kurvt sie mit fünf verschiedenen Autos durch ihren Wahlkreis. Immer den Klapptisch, Fahnen, Gummibärchen und Prospekte dabei.

„Ein zentrales Thema ist die Gerechtigkeit“, sagt Jost. „Und damit verbunden, wie es mit der Migration weitergehen soll. Daraus ergibt sich eine ganze Reihe weiterer Fragen. Zum Beispiel: Wie sollen die Sozialausgaben finanziert werden? Wie sieht es mit der Sicherheit auf den Straßen aus? Und wir wollen sagen können, daß wir in Dresden nicht so werden wollen wie Berlin. Wir wollen keine Moschee. Das ist Meinungsfreiheit.“

„Sagen Sie mal“, fragt ein älterer Bürger Jost an einem Wahlkampfstand. „Sind Sie das auf dem Plakat?“ „Ja, das bin ich, im Winter aufgenommen.“ „Da sehen Sie aber viel jünger aus“, gibt der Mann verschmitzt zu bedenken. „Da können Sie mal sehen, wie anstrengend Politikarbeit ist“, lacht Jost. Nicht immer sind die Gespräche mit Bürgern so angenehm. „Kürzlich kam ein junger Mann auf mich zu, ganz nah. Nase an Nase sozusagen und zischte mich an: „Fließt in deinen Armen blaues Blut?“ Jost schaut noch immer ungläubig, wenn sie diese Geschichte erzählt. „Ich verstehe diesen Haß nicht.“ Den konnte sie auch an einer roten Ampel in ihrem Auto sitzend beobachten. „Da zerriß eine Frau eines meiner Wahlplakate. Daneben stand ihr Mann und hielt den Kinderwagen. Das waren keine Schlägertypen.“ 1.600 Plakate ließ Martina Jost drucken, „60 Prozent sind abgerissen oder verschwunden“. Ihre Chancen schätzt sie realistisch ein. „Ein Direktmandat wäre ein enormer Erfolg.“ Einen Hinweis gibt sie mit auf den Weg: „Fahren Sie aufs Land. Das Riesenthema in Sachsen ist die Spaltung des ländlichen und städtischen Raumes.“

Die Geschichte, wie aus dem Verfahrenstechniker und Bauunternehmer Ivo Schilling (51) aus Oschatz, der jetzt im Kreis Meißen lebt, ein deutschlandweit bekannter Safranhändler wurde, ist schon ein Abenteuerroman. „Ich arbeitete für eine süddeutsche Baufirma. 2010 rief mich ein Bekannter an, bat mich, mit nach Bremen zu fliegen, die Umbauten für ein Objekt zu schätzen. Ich konnte den Termin nicht einhalten.“ Die drei Bekannten flogen allein los. „Die Maschine stürzte ab – drei Tote. Der vierte Sitz war leer, da hätte ich Platz nehmen sollen. Da wußte ich, Schluß damit. Du machst das nicht mehr weiter.“ Er ging auf Weltreise. „Auf einem Pilgerweg ließ ich mir eine Dose Safran andrehen. Als ich wieder in Deutschland war, entdeckte ich in einem Supermarkt, wie teuer Safran ist.“ Schilling machte sich 2012 auf den Weg in den Mittleren Osten. „Dort lernte ich einen Safranhändler kennen. Der stellte mich seiner Familie vor, so begann alles.“ Jedes Jahr fliegt er jetzt in den Orient. Es klingt wie ein Kinderspiel, wenn der Vater einer Tochter diese Geschichte über einen vollständigen Bruch im Leben lächelnd erzählt.

Und wie sieht er, als Wanderer zwischen Okzident und Orient, das Flüchtlingsthema? Er wird nachdenklich. „Wie blauäugig wir mit dem Migrationsproblem umgehen. Die Menschen folgen doch nur dem Geld, das ist ihnen nicht vorzuwerfen. Ich halte es allerdings für unmöglich, hier ihre Sozialisierung umzusetzen.“ Das läge zum Beispiel an den überkommenen Clanstrukturen. „Diese Strukturen funktionieren dort, hier führen sie in die Kriminalität. Der linksgrüne Narrensaum sieht das nicht.“

Doch auch die sächsische Landespolitik kritisiert der Unternehmer. „Die infrastrukturelle Erschließung des ländlichen Raumes ist seit 15 Jahren verschlafen worden, wir gurken hier mit sechs bis acht MB pro Sekunde rum. Der öffentliche Personennahverkehr funktioniert nicht, wie auch? Wir haben hier eine geringe Bevölkerungsdichte, einmal in der Stunde fährt ein Bus. Die fast leeren Busse kreuzen drei Kreise, da wird Geld verbrannt.“ Schilling setzt auf Linientaxis, die bei Bedarf angewählt werden könnten.

Wie sieht er die Situation der etablierten Parteien in Sachsen? „Ich könnte mir eine CDU-Minderheitsregierung vorstellen. Das setzt aber eine geläuterte CDU voraus, die sich von ihrem Linkskurs verabschiedet hat. Die könnte sich projektbezogen Mehrheiten suchen. Das käme auch der derzeitigen Stimmung am nächsten. Die AfD wird keinen Koalitionspartner finden. Die haben zwar ein paar gute Leute, doch denen fehlt noch die politische Erfahrung. Die AfD sollte in der Opposition bleiben. Da müssen die nicht liefern, sondern Netzwerken lernen.“

Lehrlinge werden händeringend gesucht

Aber auf eine Frage hat Schilling keine Antwort: „Wir haben im Osten die besondere Situation, daß er überaltert ist. Es fehlen zwei Generationen. Die der vor 30 Jahren weggezogenen und deren Kinder. Das ist ein Problem, das nicht zu lösen ist.“

Nicht weggezogen ist die Familie von Stefanie Guttwein. Gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem Mann, ihren beiden Kindern und den Enkeln lebt sie in Leutersdorf, fünf Kilometer von der tschechischen Grenze. Hier ist sie geboren. „Zwölf Personen auf einem Grundstück“, ihre Freude darüber ist unüberhörbar. Die Guttweins sind katholisch, wohnen in Sichtweite der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt. „Ohne Familie geht hier auf dem Dorf gar nichts“, sagt sie.

Nach der Wende war sie arbeitslos. Da baute sie gemeinsam mit den Eltern und ihrem Mann die Pension auf. „Das war nicht einfach, 1995 saßen noch die Kommunisten auf den Ämtern, haben Selbständigkeit nicht zugelassen. Aber wir haben einen tollen Bürgermeister von der CDU, der ist jetzt 76 Jahre alt, macht alles ehrenamtlich, der hat sich eingesetzt.“ Ihr Dorf Leutersdorf war schon zu DDR-Zeiten CDU, von 15 Gemeindesitzen hält die CDU aktuell elf. Leutersdorf besteht aus sechs Gemeinden, hat 3.485 Einwohner, drei Kirchen, einen Supermarkt und kleine Einzelhändler. Die Menschen grüßen die Fremden höflich, kein Fitzelchen liegt auf der Straße. Zwölf Straßenumbe­nennungen sind das aktuell brennendste Problem, über das die Verwaltung auf ihrer Netzseite berichtet.

Thorsten Jeschke, Stefanies Schwiegersohn, legt andere Schwerpunkte: „Nach der Wende gingen die Menschen hier weg, weil es keine Arbeit gab. Heute suchen alle Gewerke, seien es Bäcker, Pflegedienste oder Dachdecker, händeringend Mitarbeiter, für Lehrlinge zahlen Betriebe regelrechte Kopfgelder.“

Egbert Guttwein ist 62 Jahre alt. Der Installateur wollte zu DDR-Zeiten nicht an der Grenze Dienst leisten. „Als die mich fragten, sagte ich, nie und nimmer. Vögel können fliegen, wohin sie wollen, sagte ich. Würmer kriechen, wohin sie wollen, warum sollte nicht ein Mensch gehen, wohin er will?“ Aber Egbert Guttwein ist in der Oberlausitz geblieben, so wie die ganze Familie. „Das ist hier unsere Heimat“, sagt er zum Abschied.