Michael Ende schuf mit seinem Jugendbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ einige sprachliche Bilder, die in den alltäglichen Wortschatz übergegangen sind. Eine dieser Figuren ist der Scheinriese. Ein Mann, der nur aus der Ferne aussieht wie ein Riese, je näher man ihm aber kommt, um so kleiner wird er.
Ein sprachliches Bild, das selten besser gepaßt hat, als auf das Schauspiel, das sich in Niamey, der Hauptstadt des Niger, bot. Dort wurde mit viel Pomp die Unterschrift Nigerias, der größten Volkswirtschaft Afrikas, unter das kommende Freihandelsabkommen der Afrikanischen Union gefeiert.
Auf dem Papier ist das „African Continental Free Trade Agreement“ (AfCFTA) ein wahrer Gigant: 54 Staaten mit insgesamt 1,3 Milliarden Menschen die gemeinsamen einen 3,4 Billionen Dollar starken Binnenmarkt bilden sollen – künftig ohne Zölle, mit Personenfreizügigkeit und einer zentralen Kontrollinstanz in Ghana. Die größte Freihandelszone der Welt, wie man zwischen Kairo und Kapstadt gern betont. Ein Produkt des Panafrikanismus und ein Versuch der wirtschaftlichen Emanzipierung vom Rest der Welt.
Denn trotz all der beeindruckenden Zahlen weist die Außenhandelsbilanz der afrikanischen Staaten in eine andere Richtung: Immer noch ist die EU der größte internationale Handelspartner der afrikanischen Staaten mit 37 Prozent Im- und 38 Prozent Exportanteil. Lediglich 19 Prozent entfallen auf den innerafrikanischen Handel, was Afrika auf die letzten Plätze der Kontinente verweist. In Europa (69 Prozent) und Asien (59 Prozent) wird vornehmlich unter Nachbarn gehandelt.
Die Gründe für dieses Ungleichgewicht liegen in der Geschichte. Wenn Asien die Werkbank der Welt ist, so kann Afrika seit Jahrhunderten die Rolle des „Welt-Tagebaus“ für sich reklamieren. Immer noch werden dort vor allem Rohstoffe ausgebeutet, nach Asien und Europa exportiert, wo sie dann zu Industriegütern verarbeitet ihren Weg zurückfinden. Einer der Hauptkritikpunkte der Panafrikanisten, denen diese Zahlen gut in die Rhetorik eines fortgesetzten ökonomischen Befreiungskampfes passen.
In Wahrheit liegen die Gründe für das gehemmte Wachstum des innerafrikanischen Handels in der schlechten Infrastruktur, intransparenten Zollstrukturen und fehlenden Wertschöpfungsketten. Eine Diagnose die mittlerweile auch in der Führungsstruktur der AU geteilt wird, wo man von revolutionärer Befreiungsrhetorik weitgehend abgekehrt ist.
Die Erwartungen sind riesig, die Aussichten ambivalent
So sprach der ruandische Präsident Paul Kagame in seiner Eröffnungsansprache des AfCFTA Business Forum vor einem Jahr von der Notwendigkeit, die „Art und Weise, politisch in Afrika zu handeln, zu verändern.“ Die enge Abstimmung zwischen Wirtschaftsvertretern und Politik sei der „Weg zu gemeinsamem wirtschaftlichem Wachstum in Afrika.“ Dennoch, ganz ohne Pathos geht es auch beim eigentlich nüchternen Kagame nicht, sein Traum seien „Afrikanische Arbeitnehmer mit der neuesten Technologie, die Waren ‘Made in Africa’ schaffen.“
Ein schöner Traum, der beim Blick auf das ökonomische Ungleichgewicht innerhalb Afrikas nicht realistischer wird. Die beiden größten Volkswirtschaften, Südafrika und Nigeria, erwirtschaften gemeinsam über 50 Prozent des addierten BIP Afrikas. Die drei kleinsten Mitgliedstaaten erreichen gemeinsam etwa ein Prozent. Auch Struktur und Interessenlage der beteiligten Staaten sind völlig unterschiedlich. Beruht die ökonomische Macht und Stärke Nigerias vor allem auf dem Export seiner Ölvorkommen, verfügt Südafrika als Erbe der Apartheid über eine voll entwickelte verarbeitende Industrie. Die Bevölkerung des Südsudan lebt dagegen weitgehend von Subsistenzwirtschaft, während die Seychellen nahezu völlig vom Tourismus abhängig sind.
Die Hoffnung vieler Afrikaner ist, aus dieser Vielfalt analog zum europäischen Binnenmarkt ökonomisches Wachstum zu schaffen. Denn tatsächlich braucht Afrika dringend einen Wachstumsschub. Zwar gehen die 2010er Jahre für die meisten Staaten in Afrika vergleichsweise friedlich zu Ende, allerdings wird sich bis 2100 die Bevölkerung, Schätzungen der Uno zufolge, vervierfachen.
Sofern dieser Bevölkerungsüberschuß nicht vollständig nach Europa umgeleitet wird, dürften viele neue Arbeitsplätze nötig werden, um einen Rückfall in Bürgerkrieg und Chaos zu vermeiden.
Die Erwartungen an das AfCFTA sind riesig, die Aussichten ambivalent. „Die Augen der Welt sind nun auf Afrika gerichtet“, sprach der Vorsitzende der AU zur Eröffnung des Gipfels in Niger, Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, zu den Delegierten. Damit hat er zweifellos recht. Einer wird dabei ganz genau hinschauen, ein echter Riese auf dem internationalen Parkett: China, dem in der Vergangenheit von westlichen Medien auch schon vorgeworfen wurde, das Hauptquartier der AU verwanzt zu haben, hat sich Informationen des Senders CNBC zufolge im Vorfeld als „ehrlicher Makler“ präsentiert und hinter den Kulissen massiv für das Zustandekommen des Abkommens geworben. Die chinesische Hoffnung, künftig nur noch ein Handelsabkommen statt Dutzender einzelner zu verhandeln, dürfte ein Stück weit mit der Unterschrift der 54 Staaten und der Ratifizierung durch bisher 27 Staaten Realität geworden sein.
Peking will die Kooperation noch weiter ausbauen
Kritiker inner- wie außerhalb Afrikas werfen Peking ein doppeltes Spiel vor. Während es einerseits die Notwendigkeit afrikanischen Wachstums betone, versuche es andererseits die eigene Position rücksichtslos auszubauen. So sei es nur eine Frage der Zeit, bis chinesische Unternehmen mit einem der Mitgliedstaaten als Einfallstor den „gesamten afrikanischen Markt fluten würden“, fürchtet der Experte Olusegun Okubanjo vom Finanzberater Obsidian.
Von solchen Vorwürfen unbekümmert zeigte sich der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, gratulierte der AU und verwies auf die großen Investitionen seines Landes als „größter einzelner Handelspartner Afrikas“ im Rahmen der sogenannten Seidenstraßen-Initiative. Man wolle auch „künftig eng mit Afrika zusammenarbeiten“.
Auch Staatspräsident Xi Jinping sprach sich jüngst für eine intensivere Kooperation aus. Er zeigte sich davon überzeugt, daß die Zusammenarbeit den Interessen der 2,6 Milliarden Menschen in China und Afrika dienen werde.