© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Eine nachdenkliche Verteidigung der Demokratie
Andern die Freiheit lassen
Stefan Blankertz

Demokratie gilt als oberster politisch-kultureller Wert. Das Adjektiv „undemokratisch“ ist gleichbedeutend mit „schlecht“. Von der guten alten konservativen Skepsis gegenüber der „Tyrannei der Mehrheit“, der „Pöbelherrschaft“ und dem „Aufstand der Massen“ wollen heute weder die links gewendeten etablierten konservativen Kräfte wissen, noch die neuen sogenannten Rechtspopulisten, die im Gegenteil auf die ihnen durch ihre Wahlerfolge zustehenden „demokratischen Rechte“ pochen. Aber gerade die zunehmende Unversöhnlichkeit, mit der sich linke und rechte Bewegungen gegenüberstehen, macht eine Besinnung auf die frühere Skepsis sinnvoll.

Ich beginne mit einer eigenen Erfahrung. In Workshops zur Teambildung gibt es ein beliebtes Spiel, bei dem die Teilnehmer eine Liste von Gegenständen erhalten nebst der folgenden Anweisung: „Mit einer Gruppe weiterer Astronauten sind Sie auf dem Mond gelandet. Während eines Erkundungstrips ereignet sich eine Havarie, und Sie müssen entscheiden, welche Gegenstände Sie zurücklassen können, um Gewicht zu sparen, und welche Ihnen weiterhin nützlich sein werden.“ Nachdem jeder Teilnehmer eine Präferenzliste erstellt hat, in welcher Reihenfolge je nach Notwendigkeit der Lage der Ballast abzuwerfen sei, werden Teams gebildet. Nun entscheidet das Team über die Präferenz. Am Ende betrachten alle gemeinsam sowohl die Einzel- wie auch die Gruppenergebnisse. Als die objektiv richtige Präferenzliste gilt die der Nasa (das Spiel ist ihrer Ausbildung von Astronauten nachempfunden).

Der Clou bei der Sache: Läuft die Teambildung gut, so muß das schlechteste Gruppenergebnis besser sein als das beste Einzelergebnis. Warum? Ein gutes Team versetzt jedes Mitglied in die Lage, seine Kompetenz einzubringen, wogegen unsinnige Meinungen ausgefiltert werden.

Als ich das Tool einmal bei einem Training in einer mühsam privatisierten Behörde einsetzte, kam es zu dem erstaunlichen Fall, daß der beste einzelne in dem Team mit dem schlechtesten Ergebnis saß. Das Team hatte seine Expertise nicht erkannt. Verschämt gab der Teilnehmer zu, er habe nicht nachdrücklich genug für seine (richtigen) Antworten geworben. Ich sagte ihm, tatsächlich sei dieses nicht seine Aufgabe, vielmehr habe das Team die Aufgabe, seine Überlegenheit zu erkennen und ihm den Raum zu geben, sie darzulegen. Der informelle Leiter des Teams, nicht zufällig ein engagierter Gewerkschaftler, war da anderer Auffassung. Er sah kein Versagen des Teams: „Wir haben abgestimmt, also war das ganz in Ordnung.“ Er reagierte beleidigt, als ich darauf hinwies, dieses Verfahren habe dazu geführt, daß das Mondabenteuer des Teams mit dem gemeinsamen Tod endete.

 Ein gutes Team ist nicht demokratisch, oder, provozierender gesagt: Ein gutes Team ist undemokratisch. Es erkennt Autorität an, nicht als eine formale Macht, sondern als tatsächliche Fähigkeit, in Notsituationen richtige Entscheidungen zu treffen.

Dies Spiel lehrt uns viel über die Kehrseite der Demokratie. Ein gutes Team ist eben nicht demokratisch, oder, noch provozierender gesagt: Ein gutes Team ist undemokratisch. Es erkennt Autorität an, nicht als eine formale Macht, sondern als tatsächliche Fähigkeit, in Konflikt-, Not- und Problemsituationen richtige Entscheidungen zu treffen. Das angemessene Verfahren ist informell und basiert auf Freiwilligkeit, in ihm verbinden sich Individualismus und Vergesellschaftung.

Der konservative Ökonom und Sozialphilosoph F. A. Hayek nannte es eine „Verwertung des Wissens in der Gesellschaft“, für welche der Markt, mithin die freiwillige Interaktion zwischen allen Handelnden, den besten Rahmen biete. (Wobei hier gleich wieder die Frage auftaucht, was ein sinnvoller Begriff von „konservativ“ wäre. Hayek selber jedenfalls hat sich so nicht klassifiziert, vielmehr geschrieben, daß er als Liberaler kein Konservativer sei.)

Viele der frühen und einige der späteren nachdenklichen Verfechter der Demokratie waren sich durchaus der Gefahren bewußt, die in der schlichten Form einer „Befragung“ der Mehrheit lauern. Daß die Mehrheit der Bevölkerung – oder emphatisch: des Volkes – nicht per se über die Weisheit und die Expertise verfüge, in politisch schwierigen Fragen die richtige oder die optimale Antwort zu finden, hatten sie durchaus im Blick. Sie hofften darauf, daß der Prozeß einer öffentlichen, von gegenseitiger Toleranz und Achtung getragenen Diskussion die Wähler informieren und läutern würde.

Allerdings war das Ideal der Diskussion, das hier als Modell galt, an den Austausch in philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Zirkeln gebunden. Diese Zirkel zeichneten sich durch drei Charakteristika aus: 

1. Sie konnten nichts entscheiden, was einem Vertreter der jeweils unterliegenden Partei schadet.

2. Sie blieben klein und überschaubar.

3. Schließlich war die Mitgliedschaft in ihnen freiwillig. 

Alle drei Charakteristika trafen von Anfang an auf politische Wahlen nicht zu: Selbst in kleinen Staaten bestand die Wählerschaft nicht aus den freien Männern, die wie in Athen auf dem Marktplatz, der Agora, zusammenkamen, diskutierten und entschieden; sondern sie war zu ausgedehnt, um sich persönlich zu kennen und von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Sie entschied über Fragen, die für viele Staatsbürger lebenswichtige Bedeutung hatte, und ein Staatsbürger, der mit dem Ergebnis nicht einverstanden war, konnte sich nur entziehen, wenn er auswanderte.

Aber wenden wir uns einer aktuellen Diskussion zu, an der sich zeigen läßt, wie vertrackt die Berufung auf die „demokratischen Prinzipien“ ist, wenn es um die Meinungsbildung geht. Im Juli entschied ein Gericht in den USA, daß Präsident Donald Trump auf seinem privaten Twitter-Account ihm gegenüber kritische US-Bürger nicht mehr blockieren dürfe, da er seinen Account in öffentlicher Position nutze. Sicherlich ist ein Präsident der USA nicht ein Bürger wie jeder andere. Soll jemand aber deswegen prinzipiell gezwungen sein, sich ungebetene Kritik anhören oder ansehen zu müssen, selbst wenn es ein demokratisches Prinzip so will?

Allerdings soll nach Plänen der Trump-Regierung, wie man dieser Tage erfahren konnte, die „Federal Communications Commission“ (FCC) – eine 1934 gegründete Behörde zur Regelung der Kommunikationswege – mit der Aufgabe betraut werden, bei den sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter die Regeln der Blockierung beziehungsweise Löschung von Inhalten zu bestimmen. Dabei geht es darum, wie Trump sagt, die „freie Meinungsäußerung zu schützen“. Denn die Konzerne „zensieren“ nach Meinung des Präsidenten vor allem republikanische Inhalte oder Meinungsäußerungen.

Nun sind Facebook und Twitter sowie andere große soziale Netzwerke sicherlich nicht mit traditionellen Zeitungen oder vergleichbaren Medien auf eine Stufe zu stellen, da es bei ihnen eigentlich nicht um die Meinungsbildung geht, sondern um die Zurverfügungstellung eines Rahmens, in welchem die Nutzer unter anderem Meinungsbildung betreiben können. Dennoch bereitet es Unbehagen, sich als Prinzip vorzustellen, daß der Staat, und sei er auch dazu demokratisch legitimiert, direkten Zugriff hat auf die Zurverfügungstellung von Inhalten oder deren Löschung.

Weniger Politisierung und mehr Toleranz ist die Antwort auf die Gefahren der Demokratie; Toleranz verstanden im ursprünglichen Sinne, daß man die Positionen der Gegenseite erträgt. Nur das zu „tolerieren“, was man selber für gut hält, darin liegt kein Verdienst.

In der Bundesrepublik Deutschland hat dagegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 die Aufgabe, soziale Netzwerke zu veranlassen, bestimmte Inhalte wie zum Beispiel sogenannte „Haßposts“ umgehend zu löschen. Das dahinterstehende Prinzip ist in beiden Fällen jedoch das gleiche: Die politisch veranlaßte Gesetzgebung nimmt sich das Recht heraus, auf die private Meinungsäußerung und den privaten Meinungskonsum einzuwirken. Die Pläne der Trump-Regierung sind nichts als ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz mit politisch umgepolten Vorzeichen.

So hintereinander geschaltet tritt der Widerspruch sofort deutlich hervor: Entweder gibt es das Recht von Personen und Medien, die Meinungen, die sie präsentieren respektive konsumieren, nach eigenem Gusto zu filtern, und seien es mächtige Personen wie der Präsident der USA oder international tätige Medienkonzerne wie Facebook oder Twitter; oder es gibt das Recht der durch die Mehrheit legitimierten Regierung, auf das Filtern oder Nichtfiltern über die Köpfe der Betreiber und Nutzer hinweg Einfluß zu nehmen.

Die Behauptung, eine solche Einflußnahme sei damit gerechtfertigt, daß bestimmte soziale Netzwerke eine „Monopolstellung“ innehätten, zieht nicht, denn niemand ist gezwungen, Facebook oder Twitter zu nutzen; und durchaus gibt es auch Alternativen. Sofern diese Alternativen (noch) klein sind, liegt das an der souveränen Kundenentscheidung. Mehr noch: Wenn Facebook oder Twitter durch Maßnahmen der Löschung (oder Nicht-Löschung) bestimmter Inhalte tatsächlich gegen die Interessen und Wünsche ihrer Kunden verstoßen sollten, stärkt das die Alternativen. Facebook und Twitter so stromlinienförmig wie möglich an die Mehrheitskultur, sei sie nun „links“ wie in Deutschland oder „rechts“ wie in den USA, anzupassen, stärkt ihre Vorrangstellung und schwächt die mögliche Abwanderung von enttäuschten Kunden in die Alternativen.

Es ist schon bemerkenswert, traurig und durchaus gefährlich, daß die Linken, die so schnell das Mantra von „Wehret den Anfängen!“ vorbeten, keinerlei Verständnis aufbringen für die Schäden, die sie anrichten, wenn sie die frühere, durchaus berechtigte Kritik an den herrschenden Zuständen in neue Herrschaft ummünzen. Wie alle Populisten rufen sie dazu den „Volkswillen“ an. Die konservative Opposition sollte nicht in dieselbe Falle laufen.

Weniger Politisierung und mehr Toleranz ist die Antwort auf die Gefahren der Demokratie; Toleranz verstanden im ursprünglichen Sinne, daß man die Positionen der Gegenseite erträgt, selbst wenn sie einem unsäglich und unerträglich erscheint. Aber niemandem darf die andere Meinung, Haltung oder bildliche Darstellung, die ihm zuwider ist, aufgezwungen werden. Nur das zu erlauben, was man selber für wahr, schön und gut hält, darin liegt kein Verdienst. Doch unter die Haltung, die jeder ertragen muß, gehört auch, mit abweichenden Meinungen eben nicht konfrontiert werden zu wollen. Das bildet die Grundlage einer friedlichen Gesellschaft: Auch wenn ich im Strom der Mehrheit schwimme, muß ich anderen die Freiheit lassen, gegen den Strom zu schwimmen.






Dr. Stefan Blankertz, Jahrgang 1956, ist Soziologe und habilitierte in Erziehungswissenschaften. Er veröffentlicht regelmäßig in der Zeitschrift eigentümlich frei, zu deren Redaktionsbeirat er gehört. Blankertz lebt als freier Schriftsteller und Lyriker („Wortmetz“) in Berlin. Auf dem Forum äußerte er sich zuletzt kritisch zur staatlichen Bildungspolitik („Für Elternrecht und Freiheit“, JF 11/19). 

Foto: Die Agora in Athen (unbekannter Künstler, 1933/34): Die Aushandlungsprozesse freier Männer, die sich kannten, auf dem Marktplatz im alten Athen geben das Modell der Demokratie ab. Doch die Berufung auf „demokratische Prinzipen“ kann vertrackt sein, wenn es um die Meinungsbildung in der Massengesellschaft geht.