© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Der Affekt gegen das Supranationale
Überwindung des Eisernen Vorhangs: Reinhold Vetter über den europäischen Osten nach 1989
Peter Seidel

Was sagt es über ein Buch aus, wenn dessen Leitfrage lautet, was denn „im östlichen Europa geschehen“ sei, daß es dort heute „zu solch einer Distanzierung vom Traum Europa“ gekommen sei.

Genau dies ist erklärtermaßen der Ansatz von Reinhold Vetter, ehemaliger jahrzehntelanger ARD-Korrespondent in Warschau und Budapest. Sein Buch „Der Preis des Wandels“, in dem er sich mit „Weichenstellungen“ 1989/90 in den mittel- und ostmitteleuropäischen Ländern, ihren „Transformationsprozessen“ und in seiner Schlußbetrachtung insbesondere damit beschäftigt, daß „so manche Hoffnung von 1989 unerfüllt blieb“, umfaßt kurze Leseempfehlungen, eine zur ersten Orientierung ausreichende Landkarte sowie ein knappes Personenverzeichnis. Alles in allem, soviel sei vorweggenommen, ein weitgehend solides Werk, das durchaus zur ersten Orientierung dienen kann. Allerdings: Bei diesem Buch handelt es sich eher um eine Art Handbuch mit zahlreichen statistischen Angaben, insbesondere  zu Parteienentwicklung, Wahlen und Regierungsbildung. Was leider zunehmend auffällt, ist seine Blickverengung.

Dieses entscheidende Manko wird exemplarisch deutlich, wenn man den allzu summarischen Überblick über den Auflösungsprozeß der Sowjetunion betrachtet. Die Stagnations- und Verfallsphase unter Breschnew und vor allem ihre bis heute nachwirkenden Folgen werden von Vetter so gut wie gar nicht beleuchtet, weder die kommunistische Götterdämmerung, also der Glaubensverlust maßgeblicher Teile der Nomenklatura, die zunehmende Korruption der Kader, ihr teilweiser Übergang in die Wirtschaft als heutige Oligarchen, die  Ausbreitung der organisierten Kriminalität, die Abwendung vom diktatorischen Zentralstaat, die Wiederbelebung von nationalem Selbstwertgefühl und Freiheitsstreben: Hier wurden Weichen gestellt, die für die antisozialistische Revolution mindestens genauso wichtig wurden wie die Verheißung von Demokratie, Marktwirtschaft und Europa. 

Dies blieb offensichtlich auch so nach dem Zusammenbruch des ideologischen Zentrums und der Abschüttelung der Moskauer Vorherrschaft. Vor allem blieb die Erfahrung, wie willfährige, indoktrinierte, einheimische Eliten dabei mitgemacht haben. Wer dies jahrzehntelang erlitten hat, wird es sich heute genau überlegen, welche Rechte er an supranationale Gebilde, etwa nach Brüssel, abgeben will, was er von der Propagierung „internationaler Solidarität“ halten soll, insbesondere nach Euro- und Flüchtlingskrise, und nicht zuletzt von moralischer Selbstgerechtigkeit. 

Hat denn jemals im Westen jemand danach gefragt, wie aus einem liberalen, antisowjetischen Revolutionär der ersten Stunde heute ein Anhänger einer „illiberalen Demokratie“ mit guten Beziehungen nach Moskau wurde? Die Rede ist von Viktor Orbán, und er steht mit seinem Werdegang nicht alleine. Wieso? Diese Frage spielt bei Vetter so gut wie keine Rolle, und dies gilt auch für die anhaltende Bedeutung der alten Kulturgrenze zwischen römisch-katholischem Mitteleuropa und dem griechisch bzw. russisch-orthodoxen Ost- und Südosteuropa, wie sie im Jugoslawienkrieg zuerst wieder aufbrach.

Besonders ärgerlich ist Vetters Beschäftigung mit dem „Sonderfall DDR“. Hier fährt er noch einmal die komplette Vereinigungskritik auf, wie jene des Artikels 146 Grundgesetz zur Schaffung einer völlig neuen Verfassung, vom zu schnellen Beitritt, den „ins Abseits gedrängten“ linken Gruppen, die am Sozialismus festhalten wollten, bis sie abgewählt wurden, und nicht zuletzt von der Schädigung von „Selbstvertrauen und Stolz“ in der zusammenbrechenden DDR. Natürlich eine der „Ursachen“ für „aggressives Auftreten gegen Ausländer und Flüchtlinge“, weshalb die „Bereicherung des eigenen Denkens durch andere Kulturen auf der Strecke bleibe“. Dabei bleibt die Vorgeschichte im DDR-Spätsozialismus kaum beleuchtet. Der inzwischen in deutschen Feuilletons ausgebrochene Streit über Ursachen und Wirkungen der friedlichen Revolution zeigt, welche „Vergangenheitsbewältigung“ hier noch auf uns zukommen dürfte.

Die Revolution gegen den Sozialismus nicht verziehen

Fest steht: Die 68er in Westeuropa haben gegen das kapitalistische System und später gegen US-amerikanische Raketen demonstriert, die 68er im Osten Europas gegen den Einmarsch sowjetrussischer Panzer und den realexistierenden Sozialismus. Und diese „alternativen 68er“ im Osten haben eben genau das gemacht, wovon die westlichen 68er bis heute nur träumen: Revolution. Allerdings gegen den Sozialismus, nicht gegen den Kapitalismus. Das wird ihnen  offenbar bis heute von manchen westlichen 68ern nicht oder kaum verziehen.

Kein Wunder, daß man im Osten Europas immer weniger akzeptiert, was dort wie eine westliche Allianz von Alt-68ern, Neoliberalen und europäischen Zentralisten verstanden wird. Man muß deshalb kein Timothy Garton Ash sein, um mit etwas politischer Empathie hier genauer hinzublicken und tiefer zu schürfen, wenn man wirkliches Interesse an dem neuen Europa jenseits von Oder und Böhmerwald und seiner Entwicklung wecken will. 

Und wer dann wie Vetter schreibt, zum Feiern gebe es heute wenig Anlaß, der sollte zur Kenntnis nehmen, daß heute, nach der Kündigung des INF-Vertrages nicht etwa gegen US-Mittelstreckenraketen demonstriert wird. Auch dies ist eine Folge der Ereignisse von vor dreißig Jahren. 

Reinhold Vetter: Der Preis des Wandels. Geschichte des europäischen Ostens seit 1989. Verlag Herder, Freiburg 2019, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro