© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Der Flaneur
Gute Aussichten
Georg Alois Oblinger

Venedig kennt jeder; viel zu wenig bekannt ist sein französisches Pendant Sète. Diese südfranzösische Stadt, die von Vauban, dem Baumeister Louis XIV. direkt ins Mittelmeer hineingebaut wurde, war also Ziel meines diesjährigen Sommerurlaubs. Jeder Reiseführer empfiehlt, man solle sich zunächst einmal auf dem 175 Meter hohen Hügel Mont Saint-Clair einen Überblick über die Stadt verschaffen und den dortigen Panorama-Blick genießen.

Den selbstlosen Ordensschwestern gebührt ein herzliches Dankeschön.

Wieviel wird wohl der Zutritt zur Panorama-Terrasse kosten? Bestimmt gibt es dort auch Bewirtung; fragt sich nur, zu welchem Preis? Mit diesen Gedanken trat ich den steilen Aufstieg zu Sètes höchstgelegenem Punkt an. Dort fand ich dann eine Kapelle, die der Muttergottes von La Salette geweiht ist. La Salette ist ein kirchlich anerkannter Marienerscheinungsort, an dem die Gottesmutter Maria im Jahr 1846 über die Sünden der Menschen Tränen vergossen und zu Buße und Umkehr aufgerufen hat. Diese Marienerscheinung ist maßgeblich für die Konversion von Léon Bloy (1846–1917) verantwortlich.

Die Kapelle ist recht klein und etwas mystisch gehalten. Aber das paßt wohl auch zur Botschaft Mariens, die hier lebendig gehalten wird. Übrigens ist dies die einzige Kirche in ganz Sète, in der täglich die heilige Messe gefeiert wird.

Direkt neben der Kapelle ist das Haus der Schwestern von La Salette. Die Panoramaterrasse befindet sich auf diesem Privathaus. Welch große Überraschung: Der Zutritt ist kostenfrei. Im Treppenhaus findet sich lediglich eine Hinweistafel: „Wir weisen darauf hin, daß die Dachterrasse nicht der passende Ort für ein Picknick ist oder um dort mit einem Glas anzustoßen. Vermeiden Sie bitte auch jeden Lärm und denken Sie daran, wir wohnen darunter. Die Schwestern von La Salette“.

Das waren in vielerlei Hinsicht gute Aussichten. Der Aufstieg hat sich gelohnt. Ein herzliches Dankeschön an diese selbstlosen katholischen Ordensschwestern.