© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

„Gleiche Maßstäbe für alle!“
Wie fair ist unser politischer Diskurs? Ist etwa der Vorwurf der „Hetze“ selbst Hetze? Überzeugt die Einordnung der Identitären Bewegung als rechtsextrem? Fragen an den Ex-Bundesjustizminister, Verfassungsrichter und Vorsitzenden des Ethikrates Edzard Schmidt-Jortzig
Moritz Schwarz

Herr Professor Schmidt-Jortzig, geht die Sprache und die Art der Kritik der AfD tatsächlich zu weit? Oder nutzen die Etablierten den Vorwurf in unzulässiger Weise? 

Edzard Schmidt-Jortzig: Ich werde mich da auf keinerlei pauschale Zensur einlassen. Dafür verfolge ich das stete Verlautbarungs-Hin-und-Her auch nicht mehr genau genug – was übrigens sich leisten zu können ein durchaus angenehmer Status ist.

Beliebt ist der Vorwurf der „Hetze“: Scheidet er tatsächlich unzulässige Verunglimpfung von demokratischer Kritik? Oder dient er selbst der Verunglimpfung?  

Schmidt-Jortzig: Jemandem Hetze vorzuwerfen kann sehr wohl eine zulässige Kritik sein – doch nur dann, wenn damit wirklich eine unsachliche, gezielt persönliche Herabwürdigung gekennzeichnet wird. Daß man das Etikett aber auch dazu nutzen kann, einen Widerpart unter Vermeidung der Auseinandersetzung in der Sache ins Abseits zu stellen, liegt auf der Hand. Und leider ist letzteres ein bekanntes Muster in der politischen Auseinandersetzung.  

Das heißt konkret? Wer betreibt nun Hetze, die AfD oder jene, die sie dessen zeihen? 

Schmidt-Jortzig: Wie bereits angemerkt, werde ich mich da nicht auf ein pauschales Urteil einlassen. Angesichts unserer Verfasssungsrechtsprechung empfehle ich allerdings allen Seiten, die – menschlich vielleicht intuitive oder anerzogene – Empfindlichkeit stark zurückzunehmen. 

Warum? 

Schmidt-Jortzig: Weil das Bundesverfassungsgericht, aus meiner Sicht durchaus problematisch, Meinungsfreiheit als derart übermächtig bewertet. Im übrigen ist Hetze, im Gegensatz zur strafrechtlichen „Verhetzung“, auch kein normativer Begriff, etwa als Tatbestandmerkmal irgendeiner polizeilichen Ermächtigungsvorschrift. 

Sprich, es handelt sich um einen politischen Gummi-Begriff – ist er deshalb so beliebt? 

Schmidt-Jortzig: Jedenfalls gibt es für ihn keine objektive, rechtliche Interpretation oder irgendeine übergeordnete Instanz, die darüber entscheiden könnte. Gerichte jedenfalls sind nicht dazu da. Die sollen ja nicht eigenständig und erst recht nicht politisch bewerten. Vielmehr sollen sie nur urteilen, ob gesetzliche Vorgaben eingehalten oder Pflichten verletzt werden. Und es gibt in unserem politischen System auch sonst keinen „Wächter“, der den Vorwurf der Hetze jeweils als demokratisch angemessen oder demokratieschädlich einstuft.  

Das bedeutet doch, Hetze ist eine Vokabel, die von dem, der mehr öffentlichen Einfluß und Deutungsmacht hat, effektiv instrumentalisiert werden kann. Natürlich muß nicht bei jeder Verwendung des Begriffs eine Instrumentalisierung vorliegen. Aber wenn der bekannte Satz Lord Actons „Macht korrumpiert ...“ zutrifft, liegt der Verdacht nahe, daß der Hetze-Vorwurf durch den Mächtigeren nicht objektiv erfolgt, sondern seinen Zwecken dient, kurz: wahrscheinlich selbst Hetze ist. Ist das in unserer politischen Realität zu beobachten?    

Schmidt-Jortzig: Wie gesagt, der Vorwurf  kann beides sein: scharfe sachliche Kritik, falls tatsächlich Hetze vorliegt, oder unqualifizierte Verbalwaffe falls nicht. Die Grenze verläuft nach meinem Sprachgefühl dort, wo Kritik in der Sache – also an politischen Aussagen oder deren Propagierungsform – umschlägt in ein Diffamieren der Person und erst recht natürlich, wenn dazu körperliche Gewalt angedroht wird. Schiedsrichter im demokratischen Meinungskampf und also auch über die Wirkungskraft gegenseitiger Anwürfe der Konkurrenten bleibt letztlich immer die demokratische Öffentlichkeit. Ihr traue ich da auch genügend Urteilsvermögen zu und würde deshalb stets zu weniger Empörung und mehr Gelassenheit raten.

Dem Rat würde man gerne folgen, doch daß dieses „Urteilsvermögen“ bezweifelt werden muß zeigen etwa diese zwei Fälle (von vielen): Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann und die ARD-Fernsehmoderatorin Eva Herman wurden 2003 beziehungsweise 2006 als „antisemitischer Hetzer“ („Bild“) und „Lob(rednerin) von Hitlers Familienpolitik“ („Bild am Sonntag“) verunglimpft und gesellschaftlich vernichtet. Beide bekamen später vor Gericht recht, das ihnen Unterstellte nicht gesagt zu haben – was aber öffentlich ignoriert wurde. Exemplarisch hat solches Versagen der demokratischen Öffentlichkeit übrigens bereits 1974 Heinrich Böll in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ beschrieben. Es gibt also doch für Ihren Rat, „Gelassenheit“ zu üben, gar keinen Anlaß.

Schmidt-Jortzig: Demokratische Öffentlichkeit ist ja nicht, was bestimmte Medien im einzelnen publizieren oder unterdrücken, sondern das, was die Menschen aus den unterschiedlichsten Informationsquellen aufnehmen, innerlich irgendwie sortieren, reflektieren, und dann in ihrem politischen Verhalten reproduzieren.

Sie meinen also ernstlich, die gesellschaftliche Kontrolle funktioniert? 

Schmidt-Jortzig: Ja, und ich finde auch erfreulich unabhängig von einer womöglich einseitigen Medienberichterstattung. Nicht wer wem Hetze vorwirft, sondern wer, wie und womit jemand in der Sache überzeugen kann, gewinnt letztlich. Das beweisen doch alle Wahlergebnisse der letzten Zeit. 

Inwiefern? Wahlgewinner waren zuletzt AfD und Grüne, die beide als Exponenten und keineswegs als „Stimme der Vernunft“ gelten. Wobei, beim Lügen und Hetzen nehmen sich alle Parteien nichts. 

Schmidt-Jortzig: Aber beide angeführten Parteien waren doch auch die, denen man von unterschiedlicher Seite jeweils am häufigsten Hetze vorwarf und vorwirft. Offenbar hatten sie also neben dem gegenseitigen verbalen Beharken auch noch etwas zu bieten, was die Wähler überzeugte. Meine These ist daher: Nicht wegen, sondern trotz des „Hetze“-Getöses,  oder jedenfalls unabhängig davon, gewinnen sie dazu.

War es denn zum Beispiel zulässig, für den Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke die AfD beziehungsweise Erika Steinbach mitverantwortlich zu machen? 

Schmidt-Jortzig: Rechtlich jedenfalls ist so etwas unvertretbar, und man kann sich juristisch dagegen wehren. Auch nach strenger Logik ist die Begründung nicht schlüssig. Und in der politischen Diskussion sollten solche Anwürfe daher eigentlich nicht vorkommen. Wenn es sie aber gibt, hilft nur beharrliches Gegenargumentieren oder meinetwegen zähneknirschendes, stoisches Ignorieren. Letztlich entscheidet jedenfalls nicht die Lautstärke des Feldgeschreis.

Wenn der Mitschuld-Vorwurf unzulässig ist, was sagt es dann aus, daß er von Medien und Politik dennoch erhoben und beinahe nirgendwo zurückgewiesen wurde? 

Schmidt-Jortzig: Zurückgewiesen haben ihn ja jeweils die Angegriffenen. Übrigens: Daß manche glauben, sich derart in die Diskussion einbringen zu müssen (es sind ja keineswegs alle Medien und ist nicht generell die Politik), belegt doch eher, daß ihnen da sachliche Erklärungen und Argumente fehlen.

Fielen etwa in Rußland auf einer offiziösen Veranstaltung Worte über Oppositionelle, wie auf dem von Bundespräsident Steinmeier empfohlenen, von öffentlich-rechtlichen Medien unterstützten „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz wäre die Empörung sicher groß – dort hieß es unter anderem: „Ich schleich‘ mich ein bei Sarrazins ... Selbstmordattentat“ und „Eva Herman ... ich geb ihr von hinten …. fick sie grün und blau“. Wie läßt sich dies mit unserer Demokratie vereinbaren? 

Schmidt-Jortzig: Mit unserem eigentlich gewünschten und allseits ja auch als Maßstab propagierten Politikstil – mit systematischer Demokratie haben solche Veranstaltungen nichts zu tun – zu vereinbaren ist so etwas gewiß nicht. Und zu rechtfertigen dann erst recht nicht.

Im Juli hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die „Identitäre Bewegung“ (IB) als „rechtsextrem“ eingestuft, die im März weltweit am Pranger stand, weil der Massenmörder von Christchurch zum Teil gleiche Argumentationsmuster wie diese verwendet und ihr zudem ein Jahr zuvor Geld gespendet hat. Ist die in Medien und Politik gezogene Schlußfolgerung, damit sei die IB für dessen Massaker mitverantwortlich beziehungsweise ihre Anschauung habe sich als mörderisch erwiesen, zulässig?

Schmidt-Jortzig: Wer die Identitäre Bewegung genau ist und was sie speziell vertritt, weiß ich nicht. Wenn gegen sie ermittelt und sie konkret in der Gefährdungsskala eingestuft wird, darf das aber wenigstens nur aufgrund ihrer eigenen Programmatik und ihres Verhaltens beziehungsweise dem ihrer Mitglieder geschehen. Typisierung von Argumentationsmustern und Einschätzung nach Wortwahl oder Gruppendynamik reichen nicht. Entsprechende Einstufungen des Bundesamtes lassen sich demgemäß ja auch gerichtlich überprüfen. 

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hat zur Einstufung der IB als rechtsextrem erklärt: „Augenmerk dürfen wir nicht nur auf gewaltorientierte Extremisten legen, sondern müssen auch jene im Blick haben, die verbal zündeln. Diese geistigen Brandstifter stellen die Gleichheit der Menschen oder gar die Menschenwürde an sich in Frage, reden von Überfremdung, erhöhen ihre eigene Identität, um andere abzuwerten und schüren gezielt Feindbilder.“ Wann ist politische Kritik „verbal zündeln“, „geistige Brandstiftung“ und das „Schüren von Feindbildern“? 

Schmidt-Jortzig: So wie zitiert, ist diese Argumentation aus meiner Sicht jedenfalls nicht akzeptabel. Jedoch gibt es ja noch eine amtliche Begründung für diese Einstufung – dies war ja nur eine persönliche Erklärung des Präsidenten. 

Nur wird diese Unterscheidung realiter kein Journalist, Politiker oder Normalbürger machen – ganz im Gegenteil wird es heißen: „Ja, wenn es sogar der Verfassungsschutzpräsident persönlich sagt!“  

Schmidt-Jortig: Das BfV ist jedenfalls nicht zur Durchsetzung politischer Meinungen da, und seien sie – tatsächlich oder vermutet – noch so mehrheitsgetragen, sondern allein zur Wahrnehmung der gesetzlichen Aufgabenzuweisung. Die einschlägige Aufgabennorm – nachzulesen in Paragraph 3, Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes – sagt eindeutig, daß es bei dessen Arbeit um die Sammlung und Auswertung von Informationen über „Bestrebungen“, also planmäßige, programmatische Absichten bestimmter Personenzusammenschlüsse geht, nicht um ihre allgemein politische Argumentation und erst recht nicht um irgendwelche Taten oder Sympathien Dritter. Konsequente Anwendung des Rechts verlangt dann im übrigen auch, daß bei allen zu überprüfenden Vorgängen die absolut gleichen Maßstäbe angewendet werden.

Die Pressemeldung des BfV enthält neben genannter Erklärung des Präsidenten auch eine offenbar amtliche Begründung, in der es unter anderem heißt: „Multikulturalismus als Ausdruck einer ethnisch pluralistischen Gesellschaft gilt der IB als kulturvernichtend. Für die IB existiert Kultur nur in einer dauerhaften Verknüpfung mit einer Ethnie (Ethnopluralismus). Die IB dementiert, daß dies überhaupt ihre Position ist – aber davon unabhängig: Sind Fragen der Kultur grundgesetzlich fixiert? Sind sie nicht gerade Gegenstand des demokratischen Aushandlungsprozesses – den zu schützen und zu garantieren ja überhaupt der Zweck unseres Grundgesetzes ist?  

Schmidt-Jortzig: „Multikulturalismus als kulturvernichtend“ anzusehen ist jedenfalls keine verfassungsfeindliche Bestrebung. Ob eine irgendwie konsistente Kultur Voraussetzung stabiler Gemeinschaften ist, inwieweit davon ein Staat abhängig wäre und was man überhaupt als „Kultur“ zu verstehen hätte, wird vom Grundgesetz nirgends vorgegeben. Richtig ist aber immerhin, daß das Grundgesetz nach wie vor die Verfassung allein des deutschen Staates ist, nicht eines global ausgerichteten Gemeinwesens, weshalb es einen ja auch immer nervt, wenn sich die Politik wieder einmal ausgiebig über innenpolitische Vorgänge in Rußland, den USA oder sonstwo in der Welt echauffiert, statt die eigenen Angelegenheiten zu betreiben. Denn alles politische Streben unserer staatlichen Funktionsträger muß vorrangig eben darauf gerichtet sein, wie es in der einschlägigen Eidesformel, in Artikel 56 des Grundgesetzes heißt, alle „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes (zu) widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden“. 

Immerhin, in einer Veröffentlichung der IB-Regionalgruppe Baden heißt es laut Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg, „deutsche Frauen zu vergewaltigen gilt in dieser Zeit nicht als Verbrechen – sondern dagegen seine Stimme zu erheben“ und: „Dieses Regime hat jede Legitimation verloren.“ All das läßt sich mit Fakten nicht belegen. Sind solche Behauptungen gemäß Meinungsfreiheit dennoch legitim oder Beweis für Extremismus?

Schmidt-Jortzig: Die genannten Äußerungen sind in meinen Augen zwar reichlich abwegig und nicht nur Zuspitzungen oder realitätswidrige Übertreibungen. Aber solche Verschwörungstheorien gleich als verfassungsgefährdend einzuordnen, erschiene mir doch arg übertrieben. Sie existieren in unserer Gesellschaft in vielfältigsten Formen und unterschiedlichsten Richtungen und sind, wenn Sie so wollen, Ausdruck der breit garantierten Meinungsfreiheit.






Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, war von 1996 bis 1998 Bundesminister der Justiz und von 2008 bis 2012 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, dem er bis 2016 angehörte. Zuvor war er Verfassungsrichter in Sachsen sowie Richter an den Oberverwaltungsgerichten Schleswig-Holstein und Lüneburg. Außerdem lehrte der gebürtige Berliner, Jahrgang 1941, an den Universitäten Göttingen und Münster und war Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht in Kiel. Dort gehörte er dem Landesvorstand der FDP an, für die er von 1994 bis 2002 Abgeordneter des Deutschen Bundestags war.  

Foto: Ehemaliger FDP-Politiker Schmidt-Jortzig: „Der Verfassungsschutz ist nicht zur Durchsetzung politischer Meinungen da ... ’Multikulturalismus als kulturvernichtend‘ anzusehen ist jedenfalls keine verfassungsfeindliche Bestrebung ... Und ’Bestrebungen’ sind programmatische Absichten, nicht etwa die allgemeine Argumentation (einer politischen Gruppierung)“ 

 

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