© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Modernisierte Moderne
Neuer Blick auf erstarrten Funktionalismus: Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt die Widersprüche des Bauhausgeistes am Beispiel der „Weißenhof City“
Felix Dirsch

Die Weißenhofsiedlung zählt zur Vorzeigearchitektur der Moderne. 33 Flachdachhäuser in mediterranem Flair spiegeln den Geist des Bauhauses – obwohl dieses erst nach dem Beschluß des Stuttgarter Stadtrates 1926, eine Versuchssiedlung auf dem Gelände des Weißenhofes zu errichten, eine Architekturabteilung erhalten hatte. Gewünscht war gute Wohnqualität zu überschaubaren Kosten. Den Deutschen Werkbund betraute man mit der Durchführung. Prominente Vertreter der zeitgenössischen Architektur wie Walter Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier realisierten ihre revolutionären Ideen. Im nachhinein wurde oft bemängelt, daß es sich bei der Siedlung um eine relativ lose Ansammlung von rational-funktionalistischen Bauten handle, denen es an Geschlossenheit fehle. Zu viele Köche hätten auch hier den Brei verdorben.

Parallel zur Konstruktion der Häuser fand 1927 die Ausstellung „Die Wohnung“ statt, die die Prinzipien des Neuen Bauens einem größeren Publikum verdeutlichte. Exemplarisch ist Le Corbusiers „Doppelhaus“ zu betrachten: Der erste Mieter, der spätexpressionistische Maler Anton Kolig, klagte: „Ich bin noch recht weit davon entfernt, dieses sehr eigenwillige Haus mit meinem Geiste zu durchdringen und zu beherrschen.“

Daß diese Gebäude zur Zeit ihrer Entstehung höchst umstritten waren, hängt nicht nur mit dem eher geringen Wohlfühlfaktor zusammen; vielmehr paßte das verwendete Material weder zur Region noch war es mit „Klima und Boden“ verwachsen. Die „Wohnmaschinen“ repräsentierten für manche die negativen Seiten der Moderne. Architekten der „Stuttgarter Schule“ wie Paul Bonatz und Paul Schmitthenner, die bereits am Anfang der Unternehmung von den „Modernen“ ausgebootet worden waren, legten ihren Fokus auf heimatnahes Bauen.

Heute sind sie zu Unrecht als „Nazi-Architekten“ verschrien, machten sie doch aus ihrer Ablehnung des Neoklassizismus keinen Hehl. Aus ihrer Sicht mußte aber die Weißenhofsiedlung als „Araberdorf“ erscheinen, wie man sie auf einer Postkarte diffamierend darstellte. Die Kritiker konzipierten deshalb 1933 die Stuttgarter Kochenhofsiedlung, deren „Frontstellung gegen den Kulturbolschewismus“ (Norbert Borrmann) mit Händen zu greifen ist.

Eine Präsentation solcher Streitigkeiten, die das Selbstverständnis der Moderne berühren, sucht man im Rahmen der Stuttgarter Ausstellung über die Weißenhofsiedlung vergeblich. Überhaupt ist die Darbietung in vier Räumen viel zu klein geraten, um auch nur einen oberflächlichen Einblick in das Projekt zu gewähren, das heute nicht wenigen kundigen Betrachtern als „Pflegefall auf Dauer“ (Christian Marquardt) erscheint.

Fiktionales Interview mit Ludwig Mies van der Rohe 

Der Besucher betritt zuerst einen abgedunkelten Raum, in dem ein Film gezeigt wird. Dani Gal, ein israelischer Videokünstler, hat ein fiktionales Fernseh-interview des in die Jahre gekommenen Architekten Ludwig Mies van der Rohe, der seiner Zigarre mehr Beachtung schenkt als seinem Gegenüber, durch eine Journalistin inszeniert. Unschwer ist das „erkenntnisleitende Interesse“ auszumachen: die mediale Konstruktion von Geschichte.

Der Fokus des Gesprächs liegt auf dem Enthüllungsgestus der Fragenden: Warum hat der Emigrant erst so spät Deutschland verlassen? Warum wollte er sich anfangs mit den neuen Machthabern arrangieren, die die von ihm geleitete Schule ja schon 1933 geschlossen hatten? Daß der Baumeister die politische Situation in ihrer ganzen Dramatik zuerst nicht richtig begriff, will der Nachgeborenen nicht einleuchten. Gal offenbart eine heute typische Weise des Umgangs mit Vergangenheit. Der Betroffene hätte sich damals so verhalten müssen, wie es aus späterer Sicht geboten scheint. Dabei wird jedoch unterschlagen, daß es sich um unterschiedliche Perspektiven handelt: Mies van der Rohe wollte retten, was zu retten ist. Erst im nachhinein darf ein solches Vorgehen als illusionär gelten.

In einem weiteren Raum sind zwei Installationen von Michaela Melián zu sehen. Die Künstlerin stellt eine Collage von Formen, Inhalten und Medien ins Zentrum ihres Schaffens. Es geht ihr mehr um ein Weiterdenken des Neuen Bauens als um einen Blick auf eine längst historisch gewordene Moderne.

Martin Schmidl beschäftigt sich anschließend mit dem Medium Zeichnung. Damit schließt er an den Bauhaus-Lehrer Adolf Hölzel an, der an der Kunstakademie Stuttgart später berühmte Persönlichkeiten wie Johannes Itten und Oskar Schlemmer unterrichtete. Auch Boris Sieverts setzt sich mit Orten, Bauten, Archivalien, Geschichten und Mythen auseinander. Immer steht die Frage im Raum: Wie kann sich der Geist, der sich in der Siedlung materialisiert hat, heute als „Speichermedium in den Köpfen“ realisieren?

Zum Abschluß des relativ kurzen Ausstellungsvergnügens wird der Farbfilm „White City“ vorgeführt. Dani Gal begibt sich auf historische Spuren der Siedlung. Dabei läßt er den deutschstämmigen Zionisten und Mitbegründer Tel Avivs, Arthur Ruppin, die Weißenhofsiedlung besichtigen. Berichtet wird in Ausschnitten von dem historischen Zusammentreffen des Soziologen 1933 in Jena mit dem nationalsozialistischen Rassentheoretiker Hans F. K. Günther. Zwar sind die Inhalte des Gesprächs erfunden, historisch dokumentiert sind aber die Konvergenzen der Überzeugungen Günthers und Ruppins, der sich die Nationswerdung Israels nicht ohne Rückgriff auf eugenische Prinzipien vorstellen konnte. Die provokative Wirkung dürfte durchaus erwünscht sein.

Weiter verweist Gal direkt wie indirekt auf Tel Aviv, dessen Bauweise nicht zufällig viele Gemeinsamkeiten mit jener der Weißenhofsiedlung aufweist. Es handelt sich um Fernwirkungen des modernistischen Stils, den jüdische Architekten rezipierten. So ergab sich früh ein globaler Transfer. Auch auf aktuelle Ängste vor „Überfremdung“ geht der Autor ein. 

Einige Facetten des Bauhausgeistes versucht die Präsentation in die Gegenwart zu übertragen. Gesucht wird eine „modernere“ Moderne. Der Aufhänger für diesen neuen Blick ist eine „ältere“ Moderne, die als Sprungbrett dient und wichtige Anregungen liefert – mehr aber auch nicht.

Die Ausstellung ist bis zum 20. Oktober in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 30-32, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 0711 / 4 70 40-0

 www.staatsgalerie.de