© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Der Fall Wielun 1939
Die Vorwürfe sind falsch
Stefan Scheil

Ich fliege mit Storch längs Straße Wielun-Warthe. Das am ersten Tage angegriffene kleine Städtchen Wielun hat einige Häuser verloren und ist ein rechtes Drecknest. Besondere Angriffserfolge sind nicht zu erkennen, auch glaube ich nicht, daß große polnische Verbände dort gelegen haben.“ Diese Sätze trug Wolfram Freiherr von Richthofen am 3. September 1939 in sein Tagebuch ein. Zwei Tage zuvor hatten die von ihm kommandierten Sturzkampfbomber die Stadt Wielun bombardiert.

Um diesen Luftangriff auf den Ort nahe der alten Reichsgrenze zu Schlesien, knapp 120 Kilometer östlich Breslau gelegen, hat sich in den letzten Jahren eine geschichtspolitische Kontroverse entsponnen, die sowohl in Polen als auch in Deutschland öffentlich ausgetragen wurde und wird. Sie bildet auch einen Teil der Kulisse hinter der immer wieder einmal und gerade aktuell aufflammenden Frage, ob Polen denn Kriegsentschädigung zustehe.

Die Vorwürfe sind stark. Wielun wird in Polen teilweise als „zweites Guernica“ bezeichnet, womit nicht nur auf den in Wielun wie in Guernica befehlshabenden Offizier Wolfram Freiherr von Richthofen angespielt wird. Zudem ist gemeint, der deutsche Angriff habe keinen militärischen Zweck verfolgt. Er sei von den befehlshabenden Offizieren als Terrorangriff und zur demonstrativen Erprobung der neuen Möglichkeiten des Luftkriegs angeordnet worden. Der Jahrestag des Angriffs wird vor Ort immer wieder entsprechend begangen.

Dies ist jedoch ein doppelter Irrtum: Die deutsche Einsatzleitung war der Ansicht, daß es am 1. September in Wielun polnische Truppen gab und die Stadt ein Divisionsstandort sei. Der Angriff auf die Stadt wurde wegen dieser Einschätzung durchgeführt. Und noch mehr: Die 1951 in London vorgelegte offizielle Geschichte der polnischen Exilregierung über die „Kampania Wrzesniowa 1939“ („Septemberfeldzug 1939“) zeigt Wielun bei Kriegsbeginn ausdrücklich als Standort einer Division an.

Da man in der Bundesrepublik geneigt ist, Vorwürfe in Richtung deutscher Kriegsführung nicht nur zu glauben, sondern eher noch einen Scheit dazuzutun, erwartet man am Sonntag den deutschen Bundespräsidenten in Wielun. Auch tragen die in Deutschland letzthin publizierten Darstellungen zum Thema Wielun dem Bild Rechnung, das sich die polnische wie die deutsche Öffentlichkeit über den deutschen Angriff von 1939 generell machen: dem eines Überfalls auf ein militärisch unvorbereitetes Land. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich beispielsweise die immer wieder auftauchenden Behauptungen über polnische Truppenstärken nachvollziehen, die darauf hinauslaufen, in und um Wielun sei in den Monaten vor dem Angriff monatelang kein polnisches Militär aufgetreten.

Polen werde einen Bewegungskrieg führen und gleich bei Beginn der Operationen in Deutschland einfallen, hatte General Tadeusz Kasprzycki damals den französischen Außenminister informiert. Dies blieb offizielle Position auch gegenüber den USA.

Derartige Darstellungen beruhen auf Unkenntnis oder Totschweigen sowohl der allgemeinen Mobilisierung des polnischen Militärs, die seit dem März des gleichen Jahres mit Blick auf einen möglichen Konflikt mit Deutschland stattfand, als auch der konkreten Planungen der für diesen Abschnitt zuständigen Armee „Lódz“ für Stadt und Land Wielun. Die Teilmobilmachung der Streitkräfte begleitete die Entscheidung der polnischen Regierung, den seit dem Herbst 1938 vorgebrachten deutschen Forderungen und Vertragsvorstellungen eine Absage zu erteilen und ein Bündnis mit England und Frankreich einzugehen. Dies hatte Rückwirkungen auf die Kleinstadt Wielun, denn sie spielte in den Planungen der polnischen Militärführung phasenweise eine nicht unwesentliche Rolle.

General Juliusz Rómmel, der Oberbefehlshaber der Armee Lódz, sah im Raum Kempen-Wielun die geeignete Ausgangsbasis, um dort zwanzig Verbände mit starker Kavallerie zu versammeln und die im gegenüberliegenden Grenzgebiet versammelte 10. deutsche Armee anzugreifen. Dieser Plan wurde bis zum Juli 1939 diskutiert, als Oberbefehlshaber Edward Rydz-Smigly ihn nach Angaben von Rómmel aus politischen Gründen ablehnte. Die Verantwortung für den kommenden Konflikt mußte in den Augen der Weltöffentlichkeit offenkundig bei Deutschland liegen, daher übte auch die verbündete französische Regierung später im August 1939 einen erheblichen Druck gegen polnische Pläne aus, den Konflikt selbst zu eröffnen. Nach alten Plänen aus der Ära Pilsudski galt es dabei, sich in den Besitz Danzigs zu setzen.

Dies änderte jedoch nichts daran, daß der Raum um Wielun nach der Absage an die Rómmelschen Offensivpläne weiterhin von polnischen Truppen belegt wurde, das Vorfeld der Stadt befestigt wurde und die Stadt angesichts dieser Vorgänge im Visier der deutschen Feindaufklärung blieb. Es wurden dabei zahlreiche polnische Truppenbewegungen registriert, über die im Militärarchiv Freiburg Berichte erhalten sind, die bis in die letzten Tage vor dem Angriff am 1. September 1939 reichen. Angesichts dessen spekulierte die deutsche Armeeführung über eine geplante polnische Offensive. Es sei eine Prestigefrage, ob polnische Truppen auf deutsches Gebiet vordringen könnten oder nicht, schrieb der Generalstabschef Franz Halder am 23. August 1939 in sein Tagebuch. Anlaß dafür dürfte nicht zuletzt seine Beobachtung einige Tage zuvor gewesen sein, daß die polnische Mobilmachung weiter fortgeschritten sei als die deutsche.

Offiziell hielt die polnische Regierung für den Fall eines Konflikts demonstrativ an jenen Offensivplänen gegenüber Deutschland fest, die den Westmächten bei Abschluß der Bündnisverträge im Frühjahr angekündigt worden waren. Man werde einen Bewegungskrieg führen und gleich bei Beginn der Operationen in Deutschland einfallen, hatte General Tadeusz Kasprzycki damals den französischen Außenminister informiert. Dies blieb offizielle Position auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Graf Jerzy Antoni Potocki, der polnische Botschafter in Washington, teilte Entsprechendes am 9. August 1939 mit, als er wenige Stunden nach seiner Rückkehr von einer Polenreise Sumner Welles traf, den Unterstaatssekretär im Außenministerium. Er ließ ihn von diesen Offensivplänen wissen, die man in Warschau sehr sorgfältig vorbereitet hatte und gut getarnt glaubte, da die entsprechenden Truppenbewegungen nur nachts stattfinden würden.

Die Täuschung gelang nicht. Die „Erdlage“ der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 meldete Wielun korrekt als Teil des befestigten polnischen Verteidigungsgürtels. Dorthin schienen nun neben den bisher vermuteten Infanterieeinheiten auch Teile der gepanzerten polnischen Streitkräfte verlegt zu werden: „Ein großer Teil der in Südpolen aufgestellten Panzertruppen ist vor ungefähr zehn Tagen nach Nordwesten abgegangen. Ein Teil derselben wurde in Wielun (60 km nordwestlich Tschenstochau)“ (gesehen). In der Tat waren Panzereinheiten in diesen Raum verlegt worden, aber nicht zur 28. Infanteriedivision selbst, die um Wielun stationiert war, sondern zur südlich davon gelegenen 30. Infanteriedivision. Obwohl das Bild also nicht eindeutig war und aufgrund der oben erwähnten polnischen Tarnbewegungen, die bis in die letzten Stunden vor Kriegsbeginn fortgesetzt wurden, auch kaum eindeutig sein konnte, kam die deutsche Militärführung schließlich zum Ergebnis, in Wielun lägen genügend Truppen, um einen Angriff zu rechtfertigen. Befehlshaber von Richthofen trug diese Entscheidung ebenfalls in seinem persönlichen Kriegstagebuch ein: „Die Masse unserer Verbände ist auf Befehl von Flotte und Division auf Krakau und in Richtung Lublinitz eingesetzt. Die uns verbleibenden schwachen Teile, 2 Stuka-Gruppen, sind auf dem Wege nach Wielun, wo angeblich eine polnische Division sitzen soll.“

Der Luftangriff auf Wielun richtete sich gegen polnisches Militär und kriegswichtige Einrichtungen. Der Angriff wurde befohlen, weil sich nach Erkenntnissen der Deutschen polnische Truppen und ein Divisionsstab in der Stadt befanden, was in der Tat der Fall war. 

Es handelte sich bei der in Wielun gemeldeten Division um den Stab einer Infanteriedivision, die als Teil einer Gruppe von mehreren polnischen Einheiten ausgemacht worden war. Zwei Tage vor dem Angriff wurden mehrere polnische Divisionsstäbe als erkannt gemeldet. Insgesamt, so meldete die Feindlage am 31. August 1939, handelte es sich bei den polnischen Einheiten um: „1 Op. Gruppe um Wielun-Radomsko (etwa 3 Div. und Panzerkräfte)“. Diese Einheiten sollten in und um Wielun stationiert sein und wurden neben dem örtlichen Flugfeld und dem Bahnhof Ziel des Angriffs, wie aus den weiteren Einsatzbefehlen am Tag hervorgeht.

Wielun wurde nach dem Luftangriff ohne große Schwierigkeiten eingenommen, während die Luftaufklärung erneut polnische Truppen im Anmarsch auf die Stadt meldete. Letztlich verlagerten sich die Kampfhandlungen dann innerhalb von wenigen Tagen weiter nach Osten.

Unabhängig von den geschilderten militärischen Winkelzügen und diplomatischen Vorgaben, die für die völkerrechtliche Bewertung wichtig sind, traf das Bombardement von Wielun viele Menschen, die mit derlei Affären nichts zu schaffen hatten. Etwa einhundert katholische polnische Staatsangehörige sind als Opfer des Bombenangriffs namentlich bekannt. Da die Stadt zu einem Drittel jüdische Einwohner hatte, die in dieser Liste nicht erfaßt sind, dürfte die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten in der Größenordnung von etwa einhundertfünfzig Personen liegen, wobei über Verletzte offenbar keine Angaben vorliegen. Diese Opferzahlen entsprächen den Erfahrungen, die zu dieser Zeit bei Luftangriffen ähnlicher Größenordnung gemacht wurden. Eine genaue Zahl der Toten von Wielun, inklusive der Verluste des polnischen Militärs, liegt nicht vor, was nicht verhindert hat, daß Zahlen von bis zu 1.200 Toten kolportiert wurden, auch auf dem Desinformationsportal Wikipedia.

Von den Dimensionen späterer Bombardierungen war der Angriff auf Wielun noch weit entfernt, wenn er auch die Tendenz moderner Kriegsführung aufzeigte, zwischen Zivilisten und Militär nicht zu unterscheiden. Als Symbol für den Beginn des Bombenterrors gegen Zivilisten als Selbstzweck ist er nach Lage der Dinge dennoch fehl am Platz.

Der deutsche Luftangriff auf Wielun vom 1. September 1939 richtete sich gegen polnisches Militär und kriegswichtige Einrichtungen. Der Angriff wurde befohlen, weil sich nach Erkenntnissen der auf deutscher Seite Verantwortlichen polnische Truppen und ein Divisionsstab in der Stadt befanden, was in der Tat der Fall war. Die Stadt war im Sommer 1939 als Teil einer befestigten Linie vorbereitet worden, die den deutschen Angriff aufhalten oder eventuell einen sicheren Rückhalt für einen polnischen Angriff in Richtung Breslau bilden sollte. Die von einzelnen Historikern wie dem 1971 von der CDU zu den Sozialdemokraten entlaufenen Erich Volkmann (Militärgeschichtliches Forschungsamt) und Jochen Böhler (seinerzeit Deutsches Historisches Institut in Warschau) gegen die deutsche Luftwaffe erhobenen Vorwürfe, zu Übungs- oder Terrorzwecken eine unbefestigte und unverteidigte Stadt ohne militärischen Wert angegriffen zu haben, sind demnach falsch. Als Symbolort für einen überraschenden deutschen Überfall auf Polen ist Wielun nicht geeignet.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, ist Historiker und Mitglied im Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs. Scheil studierte Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die politische Bildung („Vorgaben höherer Stellen“, JF 36/18).

Stefan Scheil: Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. 4. Auflage, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009, broschiert, 543 Seiten, 34,80 Euro

Foto: Wielun mit den Zerstörungen des deutschen Luftangriffs vom 1. September 1939: Von den Dimensionen späterer Bombardierungen war der Angriff auf Wielun noch weit entfernt, wenn er auch die Tendenz moderner Kriegsführung aufzeigte, zwischen Zivilisten und Militär nicht zu unterscheiden