© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Haß als ein exklusiv rechtes Phänomen
Ein Sammelband widmet sich den Wurzeln von Hate-Speech in der literaturwissenschaftlichen Diskursgeschichte und bleibt doch in der politischen Eindimensionalität hängen
Josefina Hermann

Haßrede ist in aller Munde. Fast täglich werden in deutschen Medien und sozialen Netzwerken Täter gegeißelt, wird sich mit Opfern solidarisiert, wird fassungslos die „Enthemmung der Sprache“ betrauert, wird sich Gedanken gemacht, wie die Demokratie vor dem grassierenden Haß zu schützen und wie dieser juristisch zu ahnden sei. Und immer wieder die Frage: Woher kommt der ganze Haß? 

Daß die Präsenz einer der stärksten menschlichen Emotionen in einer Zeit, in der Gouvernementalität primär über Emotion organisiert wird und in der der Zusammenhang von Affektivität und Macht durch ständige Ausstellung der „richtigen“ Haltung im hegemonialen Meinungssektor in Medien und sozialen Netzwerken präsentiert wird, ist eigentlich nicht verwunderlich. Doch ist ein schlichter „Self-fulfilling prophecy“-Vorwurf semantisch und historisch zu kurz gegriffen. 

Haßrede (Hatespeech) ist keine Neuigkeit und ihre literarischen und historischen Ausformungen wurden immer wieder zum Gegenstand der Forschungs- und bisweilen der Populärdiskussion. Der Haß einer Medea oder Kriemhild als kanonisiertes Kulturgut steht aktuellen zugleich skandalisierten und vergleichsweise harmlosen Tiraden über aufgeheizte Tagespolitik etwas deplaziert gegenüber, weshalb der Tagungsband „Haß/Literatur“ von Jürgen Brokoff und Robert Walter-Jochum inhaltlich und methodisch vielversprechend ist. Der methodische Ansatz, die Affekttheorie für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen, ist somit wissenschaftsintern relevant, verspricht aber auch Schlaglichter auf ein gesellschaftlich aktuelles Thema zu werfen und eventuell die Brücke von Medea zu Merkel zu schlagen. 

Die Affekttheorie versucht, Affekte in Kategorien zu unterteilen und ihre Phänomenologie zu typisieren, also ihre konkreten Erscheinungsformen zu ordnen. Sie bietet also die Möglichkeit, Haßrede rein ihrer Form nach zu analysieren, ohne sich um Inhalt und Urheber kümmern zu müssen, offeriert den Forschern strukturell ideologiefreien Raum. Brokoff und Walter-Jochum sammeln Beiträge zu Texten vom Mittelalter bis zur Gegenwartsliteratur zu literaturgeschichtlichen, -theoretischen und gesellschaftskonstituierenden Themen. 

Wirken Tagungsbände oft etwas zusammengewürfelt, ist hier die methodische Stringenz beachtlich. Die konsequent durchgehaltene affekttheoretische Methode führt dazu, daß die Kulturgeschichte über „Nibelungenlied“, Luther und Jan Böhmermann bruchlos auf das Thema Hatespeech hin gelesen werden kann. Der Band reflektiert die Möglichkeiten, in denen Haß und Literatur zueinander in Verhältnis stehen können. Literatur kann Haß thematisieren, kann selbst Ausdruck von Haß sein, kann Medium sein, das Haß hinterfragbar macht. 

Die eigene Position und ihre Prämissen werden jedoch wenig reflektiert. Die Herausgeber sprechen von einer polarisierten Gesellschaft und verorten sich außerhalb des politischen Minenfelds. Wenn aber in der Einleitung von Haßrede gesprochen wird, werden ausschließlich rassistische Anfeindungen gegenüber linksliberalen Journalisten mit Migrationshintergrund herangezogen und die Probleme mit populistischen Strömungen werden ausnahmslos an Rechtspopulisten verhandelt. Die Möglichkeit, daß wütende Briefe an linke Islam-Apologeten vulgär und verletzend, aber nicht unbedingt Haßrede, sondern möglicherweise einfach Wutausdrücke sind, wird nicht diskutiert, negative Emotion von rechter oder konservativer Seite ist grundsätzlich Haß. 

Jörg Metelmann beschwört zitatweise in seinem Beitrag zum „Extremismus der Mitte“ gar einen gesellschaftlichen Geist, der spätestens seit den frühen 2000ern obsolet ist: „Während sich unterdrückte Scham (repressed shame) im Rechtspopulismus in Kombination mit Angst und Unsicherheit eher gegen Dritte wende (…), agiere der Linkspopulismus auf der Grundlage einer eingestandenen Scham (…) eher mit einer institutionenbezogenen Kritik an der EU oder dem Internationalen Währungsfonds.“ Die Figuration des Rechten als des von Abstiegsangst gebeutelten Abgehängten ist bekanntlich auch mit einigen Regalmetern Statistik nicht totzukriegen, aber die Idee, der Linken EU- und Bürokratieschelte zuzuordnen, ist anachronistisch oder ganz imaginiert. 

Vieles wird auf die „Haß ist rechts“-Rhetorik reduziert

Die Einzelergebnisse sind oft sehr aufschlußreich, das Gesamtframing wirkt jedoch zeitgeistig bemüht. Eine Theorie der Haßrede, die im Gegensatz zur Wutrede „ein höher gespanntes metaphysisches Bewußtsein“ mit sich bringe, das geeignet ist, ein „Weltbild des Hasses“ auszugestalten, verspricht einen realen Erkenntnisgewinn im aktuellen Diskurs, wird jedoch teilweise nicht eingelöst, sondern wiederum zugunsten weltanschaulicher Kurzgriffe implizit auf die „Haß ist rechts“-Rhetorik reduziert. 

So wird etwa in der Einleitung beiläufig und selbstverständlich von „Pegida und anderen Formen populistischer Ausgrenzungspolitiken“ gesprochen. Wahr ist jedoch: „der Haß [figuriert] sowohl als positive Emotion zur Aktivierung der eigenen Anhängerschaft wie auch als negative Emotion, die dem politischen Gegner zugeschrieben wird“. Mit Blick auf den momentanen Umgang mit Mitmenschen anderer Meinung falsch adressiert, aber wahr.

Jürgen Brokoff,  Robert Walter-Jochum (Hrsg.): Haß/Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte. Transcript Media, Bielefeld 2019, broschiert, 426 Seiten, 44,99 Euro