© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

„Das wäre wirklich töricht“
Drohen sich die blauen Alternativen nach den phänomenalen Siegen in Sachsen und Brandenburg selbstgefällig einzuigeln? Davor warnt der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt. Will die Partei wirklichen Erfolg, muß sie sich wandeln
Moritz Schwarz

Herr Professor Patzelt, Parteichef Alexander Gauland meint, nach den Erfolgen vom Sonntag könne die AfD nicht mehr auf Dauer ausgegrenzt werden. Hat er recht?

Werner J. Patzelt: Die Opposition als Mit-Akteur zu respektieren, wäre im Dienst eines funktionierenden Parlamentarismus sinnvoll, hängt aber von der Bereitschaft aller Beteiligten ab, sich politisch vernünftig zu verhalten.  

Gauland wörtlich: „Ich bin zuversichtlich, (daß sich) mittelfristig (eine) bürgerliche Mehrheit durchsetzen kann.“ Ist eine Zusammenarbeit von CDU und AfD, etwa in Sachsen, tatsächlich vorstellbar? 

Patzelt: Zumindest in der kommenden Legislaturperiode nicht. Zum einen, weil die Union das aus guten Gründen ausgeschlossen hat, es ihr also sehr schadete, wenn sie wortbrüchig würde. Und insbesondere, weil die AfD in ihrer jetzigen Form kein akzeptabler Kooperationspartner ist. 

Warum nicht?

Patzelt: Erstens hat ihre Basis noch jeden ihrer Führungspolitiker, der die AfD für eine Kooperation mit anderen Parteien annehmbar machen wollte, um sein Amt gebracht. Zweitens – und vor allem – hat sich die AfD immer noch nicht entschieden, ob sie eine unser politisches System tragende oder eine es überwindende Partei sein will. 

Wie kommen Sie darauf?

Patzelt: Zwar haben sich die AfD-Wahlkämpfer in Sachsen und Brandenburg, im Vergleich zu früheren Äußerungen aus der Partei, erhebliche Mäßigung auferlegt. Aber es ist nicht klar, ob der Verbalradikalismus auf AfD-Veranstaltungen nur der operettenhaften Belustigung des Publikums dient oder nicht eben doch ernst gemeint ist.

Sie meinen Invektiven wie „Kanzlerdiktatorin“ oder „Volksverräter“?

Patzelt: Gute Beispiele! Und außerdem kann niemand mit einer Partei kooperieren, die nicht ihr Verhältnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung geklärt hat.  

Diese Äußerungen sind zweifellos radikal, wo aber bitte richten sie sich denn gegen unsere demokratische Grundordnung? 

Patzelt: Es existiert unübersehbar ein Einvernehmen zwischen radikal formulierenden AfD-Politikern und applausbereiten AfD-Anhängern. Und was gar im Internet über unseren Staat und über jene Kräfte geschrieben wird, die ihn geprägt haben und tragen, ist oft fern von allem schulterzuckend Hinnehmbaren.

Nochmal: Bei aller Kritikwürdigkeit solcher Rhetorik – sie ist doch kein Hinweis darauf, daß die AfD die verfassungsmäßige Ordnung stürzen will. 

Patzelt: Das mag sein, beruhigt aber nicht. Solange jedenfalls AfD-Führungspolitiker gegenüber ihren Anhängern nicht das ausüben, was Walter Bagehot – im 19. Jahrhundert Autor eines berühmten Buchs über die britische Verfassung – die „teaching function“ von Abgeordneten nannte, also das Zur-Räson-Bringen insbesondere der eigenen Gefolgsleute, solange werden sich andere Parteien nicht auf eine normativ derart unzuverlässige Partei einlassen können.

Das Versagen der Parteiführung in Sachen „teaching function“ muß man in der Tat beklagen – aber eben nicht nur bei der AfD: Denn es findet sich nicht minder bei den etablierten Parteien, die die AfD als Antidemokraten, Unmenschen und „Nazis“ verunglimpfen. Sind die Etablierten für Sie folglich ebenso verdächtig, die Demokratie beseitigen zu wollen?

Patzelt: Weil ich an alle Parteien den gleichen Maßstab anlege, habe ich von Anfang an solche blindwütigen Attacken auf die AfD nicht nur kritisiert, sondern auch für demokratisch verachtenswert erklärt. Also trifft es auch die AfD, wenn sie sich spiegelbildlich falsch verhält. Gewiß widerfährt der AfD beim politischen Streit objektiv vielerlei Unrecht. Doch eine Partei, die nicht die Größe hat, Gleiches gerade nicht mit Gleichem zu vergelten, ist nun einmal zu kritisieren. 

Das heißt dann im Umkehrschluß tatsächlich, daß die Etablierten ebenso latent antidemokratisch und verfassungsfeindlich sind, wie Sie es der AfD vorwerfen?

Patzelt: Zumindest verhalten sich Leute aus ihren Reihen so. Glücklicherweise hat es im sächsischen Wahlkampf solche Verunglimpfungen seitens meiner Partei, der CDU, höchstens ausnahmsweise gegeben. Was linke Parteien an überschießender Demagogie von sich geben, entzieht sich meinem Einfluß und wurde von mir immer schon kritisiert. Allerdings haben sowohl die Grünen als auch die Linke inzwischen bewiesen, daß sie – einmal an die Macht gelangt – unsere politische Ordnung respektieren. Der AfD traue ich derzeit ein Bestehen dieser politischen Eignungsprüfung einfach noch nicht zu. 

Natürlich hat keine der etablierten Parteien versucht, unsere Demokratie zu stürzen – aber „respektieren“? Das kann man auch anders sehen, denkt man an die Verfassungsverstöße und zahllosen antidemokratischen Widrigkeiten, die sie sich bereits geleistet haben. Etwa, um nur eine zu nennen, die „Herrschaft des Unrechts“ (Horst Seehofer) im Jahr 2015. 

Patzelt: Seien wir da präziser! Die entscheidende Frage ist, ob eine Partei oder Gruppierung die freiheitliche demokratische Grundordnung als unverfügbaren Rahmen ihres Handelns akzeptiert oder sie zu verändern beabsichtigt. Eine nachgeordnete Frage ist es hingegen, ob eine Partei auch den angemessenen Verhaltensweisen im Rahmen dieser Grundordnung gerecht wird, also etwa das Recht ihrer Konkurrenz auf Gleichberechtigung respektiert. Und da gibt es leider keinen Zweifel daran, daß viele Politiker von Grünen, Linker, SPD und – leider Gottes – auch der Union die AfD unfair behandelt haben. Und letztlich geht es ohnehin um einen ganz anderen Punkt ... 

Nämlich? 

Patzelt: Kann es sich die Union überhaupt politisch leisten, mit der AfD in irgendeiner Form zu kooperieren? Auf der AfD lastet enormer politischer Verfolgungsdruck, und gleiches gilt oft schon für jene, die lediglich fordern, mit der AfD fair umzugehen. Allein das gilt ja vielen bereits als ein Skandal. Und deshalb wird die AfD, wenn sie wirklich mit der CDU zusammenwirken will, erst einmal die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, daß dies für die CDU relativ gefahrlos möglich ist. Wieviel da seitens der AfD noch zu leisten ist, erkennt man an der von vielen wie eine Selbstverständlichkeit akzeptierten Forderung, daß man auch auf kommunaler Ebene jeden Kontakt mit der AfD meiden solle. Also mit Leuten, die oft genug auf die gleiche Schule gegangen sind wie man selbst, und die als gewählte Gemeinde- oder Stadträte nun einmal das Recht haben, an kommunalen Verwaltungsentscheidungen mitzuwirken. Diese demokratiewidrige Wirklichkeit gilt es zu verändern – und das gelingt nicht durch Lamentieren, sondern nur durch Schaffung und Erkundung von Vertrauenswürdigkeit. 

Wie werden Sachsen und Brandenburg nun künftig regiert werden? 

Patzelt: Michael Kretschmer geht auf eine Koalition mit SPD und Grünen aus, und Dietmar Woidke verhandelt mit allen außer der AfD. 

Ja, aber werden die Verhandlungen gelingen, Stichwort: geplatzte Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl. Und falls ja, werden die Bündnisse fünf Jahre halten? 

Patzelt: In Sachsen wird das heikel. Dort machte sich die CDU von SPD und Grünen abhängig, was deren Verhandlungsgewicht enorm erhöht. Es paßt die Erklärung von Grünen-Chef Robert Habeck also ganz ins Bild: Die CDU müsse erst viele ihrer Positionen räumen, bevor seine Partei der CDU die Gnade gewähre, einen CDU-Ministerpräsidenten zu wählen. In dieser Lage wird es spannend, wie weit die CDU-Landtagsfraktion und die Kreisverbände, schwer gebeutelt durch die anti-grüne Konkurrenz der AfD, da mitgehen werden. Deren Sorge: Schleift eine Koalition mit den Grünen das CDU-Profil nicht noch weiter ab, stärkt den Zulauf zur AfD und mindert die eigenen Chancen bei jeder kommenden Wahl?

Was, wenn die Verhandlungen nicht gelingen oder eine Koalition vorzeitig platzt? 

Patzelt: Ob die Koalitionsverhandlungen erfolgreich sein werden, kann niemand wissen. Falls sie erfolglos bleiben, hätte die CDU eine Möglichkeit, auf die ich seit vielen Monaten hinweise: eine Minderheitsregierung ganz ohne Tolerierungspartner, die sich fallweise nötige Mehrheiten quer über alle Fraktionen sucht. 

Die funktioniert nur, wenn die Union bereit wäre, gegebenenfalls auch mal mit der Linken oder der AfD zu kooperieren. 

Patzelt: Ja, und eben das entspräche den Praktiken des klassischen Parlamentarismus. In Deutschland kommt uns das vor allem deshalb merkwürdig vor, weil wir im einst etablierten Wenig-Parteien-System jahrzehntelang durch die Möglichkeit von Regierungen mit stabilen Mehrheiten verwöhnt wurden. Skandinavien zeigt, daß es auch anders gehen kann. Im übrigen machte sich die sächsische CDU bei den Koalitionsverhandlungen weniger erpreßbar, wenn sie immer wieder cool auf ihre Risikobereitschaft in Sachen Minderheitsregierung verweisen wollte. 

Wie soll sie das überzeugend tun, wenn sie mit den Grünen überhaupt nur deshalb verhandelt, weil sie eben davor viel zu große Angst hat? 

Patzelt: Das hinge ganz vom politisch-taktischen Geschick Michael Kretschmers ab. Die erforderliche Autorität für solche Spielzüge besitzt er jedenfalls.

Sie sprachen von den „Praktiken des klassischen Parlamentarismus“, etwa sich Mehrheiten zu suchen. Ist also, sich dem zu verweigern, schlechter Parlamentarismus, gar vielleicht antiparlamentarisch?

Patzelt: Zumindest wäre es töricht, verfügbare Möglichkeiten ganz ungenutzt zu lassen. Klüger sind Ansagen der folgenden Art: Wir, die Regierungspartei X, halten die Positionen und Personen der Partei Y zwar für höchst fragwürdig. Vielleicht ist die Partei Y aber lernwillig und lernfähig; und also testen wir sie auf ihren Charakter und auf ihre Kompetenz. Mit einer solchen pragmatischen Herangehensweise machte man einen viel besseren Gebrauch von den Möglichkeiten eines Parlaments als durch die Herbeiführung ideologischer Blockaden.

Natürlich ist es das Recht jeder Partei, sich einer anderen grundsätzlich zu verweigern. Aber hier geht es um mehr: darum, daß alle anderen gegenüber der zweitgrößten Fraktion die „Praktiken des klassischen Parlamentarismus“ verweigern, um ihr die politische Macht, die ihr qua Wahlergebnis zumindest potentiell zusteht, vorzuenthalten. Das Bundesverfassungsgericht aber hat festgestellt, daß die grundsätzliche Möglichkeit der Revision von Politik unverzichtbares Merkmal der Demokratie ist. Durch die konzertierte Blockadepolitik neutralisieren die etablierten Parteien jedoch dieses unverzichtbare Merkmal der Demokratie – und enthalten zudem einem Viertel der Wähler in Sachsen und Brandenburg dieses demokratische Grundrecht vor. Ist das, natürlich nicht de jure, aber – folgt man dem Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts – de facto nicht eine Attacke gegen die Demokratie? 

Patzelt: Das eine ist das gute Recht einer jeden Partei, sich dem Zusammenwirken mit einer anderen Partei einfach zu verweigern. Das andere ist die Frage, ob eine grundsätzliche Verweigerung und kollektive Ausgrenzung die konstruktiven Möglichkeiten eines Parlaments gemeinwohldienlich nutzt, dem Geist repräsentativer Demokratie gerecht wird und zu guten Sitten im politischen Miteinander paßt. Und da ist es eben so, daß auch ein falsches Verhalten ein legitimes Verhalten ist – für das man freilich vom Wähler zur Rechenschaft gezogen werden kann. Der hat es immerhin in der Hand, sogar eine einst ausgegrenzte Partei mit der absoluten Mehrheit auszustatten, falls er das so will. 

Damit diagnostizieren Sie aber doch erneut bei den Etablierten das, was diese der AfD vorwerfen: lediglich formale Demokratietreue bei undemokratischem Geist. 

Patzelt: Ja, und derlei nennt man die „Arroganz der Macht“. Die ist wohl ebenso alt wie die Menschheit selbst. „Wehe den Besiegten!“ rief etwa – und wohl zustimmend – der Keltenfürst Brennus, als er im 4. Jahrhundert vor Christus das von ihm eroberte Rom plündern ließ. Daß solche Arroganz der Macht unzivilisiert, vielleicht gar unsittlich und jedenfalls schlecht für ein Gemeinwesen ist, darf man nun aber nicht übersehen. Eben deshalb habe ich seit jeher allen Parteien davon abgeraten, bislang unterlegene Gegner durch archaisches Niederhalten schlecht zu behandeln, statt sie dadurch zu respektieren, daß man sich mit ihnen auf einen nach fairen Regeln geführten „kommunikativen Nahkampf“ einläßt. 






Prof. Dr. Werner J. Patzelt, der durch seine zahlreichen Medienauftritte bekannte Politologe gilt als Experte für die Themen CDU, AfD und Konservatismus. Ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages, ist Patzelt Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft der TU Dresden, wo er bis März 2019 den Lehrstuhl für Politische Systeme innehatte. Jüngst beriet er die CDU Sachsen im Landtagswahlkampf. Geboren wurde er 1953 in Passau. 

Foto: Jubel am Wahlabend (Jörg Urban, AfD-Spitzenkandidat in Sachsen, mit Parteifreunden am Sonntag in Dresden): „Die entscheidende Frage ist: Kann es sich die CDU wegen des Verfolgungsdrucks gegen die AfD überhaupt leisten, mit ihr zu kooperieren? Wenn die AfD das will, muß sie daher die Voraussetzungen schaffen, daß der Union das überhaupt möglich ist“

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