© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Pankraz,
der Mitbürger und die Wutbürger

Ein gewaltiger Shitstorm in des Wortes genauer Bedeutung erhob sich in den letzetn Tagen gegen den ehemaligen hohen hessischen Regierungsbeamten und heutigen AfD-Patriarchen Alexander Gauland, weil er seine Partei dem „bürgerlichen Lager“ zurechnet. Sie lehne „umstürzlerische Aufbrüche in die Utopie“ ab, plädiere für die Souveränität nationaler Parlamente und mehr Mitspracherechte der Bürger, schrieb er in einem Gastbeitrag in der Welt. Eine bürgerliche Partei wolle „sichere, kontrollierte Grenzen, eine Reduzierung der Anreize für Migration“.

Wie komme der Mann dazu, so tobte es daraufhin aus dem Blätterwald, den hehren Begriff der „Bürgerlichkeit“ so frech mit Füßen zu treten?  Die AfD habe nichts, aber auch gar nichts, mit Bürgerlichkeit zu tun!

Bürgerlichkeit, so hieß es, bedeute vor allem Gemeinschaftsbildung über sprachliche und andere kulturelle Grenzen hinweg, „Mitbürgerlichkeit“. Der Begriff des „Mitbürgers“ wurde zu einer regelrechten Drohvokabel . Mit ihrer Hilfe bringen die Politiker und die ihnen zugeordneten Medien den Leuten bei, daß sie faktisch jeden Zuwanderer zur Polis ungeprüft und ohne vorhergehende Verhandlung als gleichberechtigt, ja als speziell privilegiert zu akzeptieren haben. Das ölige Reden vom „Mitbürger“ (statt vom Bürger selbst) dementiert im Grunde jeden Bürgerstolz und jede bewährte bürgerliche Tradition.

Das Volk reagierte darauf,  durchaus im Sinne von Bürgerlichkeit, mit dem Begriff des „Wutbürgers“, der sich dagegen wehrt, seiner nationalen Bürgerrechte hinterrücks beraubt zu werden, und einer politischen Partei oder Bewegung, die sich dieses Protestes annimmt und ihn in gewaltfreie, parlamentarische Formen zu gießen sucht, kann man nichts vorwerfen, geschweige denn sie mit Shitstorms überziehen. Oppositioneller Protest ist in der Demo-kratie nicht nur erlaubt, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unabwendbarer Bestandteil ihres politischen Alltags.


In einem freien Gemeinwesen muß es erlaubt sein, für die traditionelle Leitkultur unter der Triade „Familie, Gott, Vaterland“ einzutreten und sie nicht gegen Gendergaga und Multikulti einzutauschen; wer das ignoriert und nur noch mit Totschlagwörtern wie „Halb-, Krypto- oder Neofaschismus“ um sich wirft, enttarnt sich als Feind der Meinungsfreiheit und als jemand, der die von ihm selbst so hoch gepriesene Bürgerlichkeit nur tief zu blamieren vermag.

Aber gibt es denn heute überhaupt noch so etwas wie Bürgerlichkeit? Gibt es noch ein lebendiges „Bürgertum“, das der Gesellschaft die Regeln vorgibt und auf ihre Einhaltung achtet? Pankraz zweifelt daran. Was es gibt, sind Angestellte mit mehr oder weniger Geld auf dem Konto, daneben eine im Vergleich dazu kleine Anzahl von Leuten, die „selbständig“ sind insofern, als sie etwas auf eigene Rechnung herstellen und/oder anbieten: Gebrauchsartikel, Dienstleistungen, Beratung, Werbesprüche. Und es gibt die Arbeitslosen.

Weder die Angestellten noch die Selbständigen, noch die Arbeitslosen bilden ein einheitliches soziales Milieu und auch kein von ihnen als selbstverständlich empfundenes  „politisches Lager“. Zwar mag hier und da noch traditionelles Milieubewußtsein vorkommen und auch, daß sich damit gewisse politische Optionen verbinden. Doch das sind absterbende Etats. Was politische Präferenzen betrifft, kann man nicht einmal mehr zwischen „Superverdienern“ und „Normalverdienern“ zuverlässig unterscheiden, dergestalt also, daß die Besserverdienenden der einen Seite zuneigen und die Normalverdiener der anderen.

Hört man den aktuellen  Diskussionen zu, könnte man glauben, daß es inzwischen nicht einmal mehr eine halbwegs geschlossene intellektuelle Opposition gibt wie noch in kommunistischen oder von den 68ern geprägten Zeiten. Die Herrschenden sind selber Opposition geworden. Sie sehen ihre Felle davonschwimmen und greifen nun nach der Bürgerlichkeit wie nach einem Rettungsring.


Wahre Bürger lieben die Freiheit („Stadtluft macht frei“, hieß es schon im Mittelalter), doch die neuartigen Apologeten der Bürgerlichkeit wissen vor allem, daß ihre eigene „Freiheit“ nur gesichert werden kann durch die Unterdückung der bösen Wutbürger. Was der Wutbürger als „seine Freiheit“ reklamiert, muß im Namen der neuen Bürgerlichkeit ganz schnell buchstäblich ausgerottet werden. Auch läßt sich Freiheit nach neubürgerlicher Überzeugung nirgends schlicht „einführen“, sie muß vielmehr  aus den Ziegeln der eigenen „Burg“ erwachsen, wenn sie Wurzeln schlagen soll.

Die Haltung der Massengesellschaft zum überzeugten, soliden „Bürger“ ist auf bezeichnende Weise widersprüchlich. Üblicherweise herrscht Herablassung, wenn nicht gar angestrengte Verachtung. Die Massenmedien favorisieren entweder den sogenannten „kleinen Mann“, den sie meistens  aggressiv gegen den Bürger ausspielen, oder den reichen Krösus mit seinen aufdringlichen Accessoires, sowie den „Star“. Noch das läppischste „Sternchen“ rangiert bei ihnen höher als der einfache, ordentliche Bürger, der, wenn überhaupt, allermeist als langweiliger, uninteressanter Spießer hingestellt wird.

In bürokratischen Erlassen oder Festreden kommt der ordentliche Bürger regelmäßig und positiv vor, freilich stets in Form des schon eingangs erwähnten „Mitbürgers“. Auch da ist das Wort wieder die reine Drohvokabel. Der Bürger hat nach der Ansicht der bürokratischen Bürgerlichkeit zu gehorchen; das war seine Funktion von Anfang an, als er in den ritterlichen Burgen Zuflucht vor andrängenden Feinden oder vor verheerenden Naturkatastrophen Schutz fand, zum treuen Burgbewohner wurde, zum „Bourgois“. Vom aufmüpfigen „Citoyen“ keine Spur.

Ob aber Bourgois oder Citoyen – es ist ein gutes Zeichen, daß es den Bürger noch gibt. Er bleibt in all seiner Furcht und Hoffnung  – und noch vor Bauer und Priester – das überzeugendste Symbol wahrer Menschlichkeit. Goethe: „Was ist das würdigste Glied des Staates?  Ein wackerer Bürger; / Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff“ (aus dem Gedicht „Vier Jahreszeiten“, Nr. 18).