© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Auf den geistigen Mut kommt es an
Begriffshistorie: Bürgerlichkeit aus linker und rechter Sicht im Wandel der Zeiten
Karlheinz Weißmann

Wenn in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts  eine Person oder eine Sache als „bürgerlich“ bezeichnet wurde, war sie erledigt. „Bürgerlich“ galt dem linken Zeitgeist als Synonym für „spießig“, „verklemmt“, nicht „up to date“, und im akademischen Milieu auch als Äquivalent von „zurückgeblieben“, „reaktionär“, „faschistoid“. Der Faschismus jedenfalls wurde im Seminar ganz selbstverständlich als „bürgerliche Herrschaftsform“ behandelt, was offenbar nur „bürgerliche Wissenschaftler“ – Ernst Nolte etwa – leugneten.

Dahinter stand die Attitüde geschichtsphilosophischer Gewißheit, dergemäß die Zeit des Bürgers abgelaufen war. Er hatte seine Schuldigkeit getan und hielt sich nur zäh als Anachronismus über das Ende des „bürgerlichen Zeitalters“ hinaus, auf das nun ein anderes, besseres, neues folgen sollte. Das hieß allerdings auch, daß der Bürger nicht immer so häßlich und überflüssig war wie in der Gegenwart. Man billigte ausdrücklich zu, daß es eine bürgerliche als heroische Epoche gegeben hatte. Die sollte mit dem Aufstieg der mittelalterlichen Städte begonnen haben, der wachsenden Bedeutung der Geldwirtschaft, der Entstehung einer selbstbewußten Schicht von Kaufleuten und Handwerkern, die sich gegen die Bevormundung durch Adel und Kirche zu wehren begannen, Selbstverwaltung forderten und Wissenschaften förderten.

Allerdings kam es nur in Frankreich zu dem, was Marx als „bürgerliche Revolution“ betrachtete, also die gewaltsame und erfolgreiche Erhebung des Dritten Standes gegen Aristokratie und Klerus. Ein Akt von außerordentlicher Bedeutung seiner Meinung nach, insofern als dadurch die Geschichte einen entscheidenden Schritt vorankam: weg vom Feudalismus, hin zum Kapitalismus, der notwendigen Vorstufe des Sozialismus. Der ließ nur ärgerlich lange auf sich warten, was die Gereiztheit der Linken erklärte, die doch am zwangsläufigen Fortgang der Dinge festhalten wollte. Weshalb sich ihre Kritik nun auf die Gestalt des Bürgers konzentrierte, der mit dem citoyen des Jahres 1789 gar nichts mehr zu tun hatte, jenem Tapferen, der die Bastille stürmte. An seine Stelle war der bourgeois getreten, der „Geldfeudale“, der seine Ideale verraten hatte und nichts tat, als der (angeblichen) Aufforderung des „Bürgerkönigtums“ zu folgen: „Enrichissez-vous, messieurs“ – „Bereichern Sie sich, meine Herren“.

Spaltung der politischen Linken

Wenn Heine feststellte, daß die „Bourgeoisie, nicht das Volk (…) die Revolution von 1789 begonnen und 1830 vollendet“ habe, war das also keineswegs anerkennend gemeint, sondern kritisch, und entsprach einer Denkfigur, die in seinem intellektuellen Milieu zu den Gemeinplätzen gehörte. Der bourgeois war verantwortlich für die Verzögerung des weiteren Fortschritts und hemmte den Gang der Dinge, was notwendigerweise zu jener Spaltung der politischen Linken führte, die bei den Aufständen des Jahres 1848 offenkundig wurde: hier die Liberalen, da diejenigen, die man nun Sozialisten oder Kommunisten oder Anarchisten nannte. Während erstere darauf beharrten, daß die „bürgerliche“, also die Freiheit des Einzelnen – nicht zuletzt in ökonomischen Belangen – zusammen mit der parlamentarischen Vertretung zu den entscheidenden Zielen gehörte, wollten die anderen darüber hinausgehen und eine „soziale Republik“ errichten, die den Akzent auf die Gleichheit setzte, oft schon auf dem Weg von Enteignung der Reichen und Errichtung von Staatsbetrieben.

Risse im Gefüge der bürgerlichen Ordnung

Bakunin, russischer Fürst und entschlossener Anhänger der Radikalen, verwies darauf, daß der Unterschied zwischen den Strömungen im Mutterland der Revolution auch symbolisch zum Ausdruck kam an der liberalen Trikolore, die vor öffentlichen Gebäuden aufgezogen war, und den roten Fahnen, die über den Arbeitervierteln wehten. Bei ihm fand man aber außerdem den Hinweis, daß die Linke mit ihrem „bis zum Überdruß wiederholten Stichworte“ vom bourgeois als Gegner doch nicht darüber hinwegtäuschen könne, daß in ihren eigenen Reihen „von Kopf zu den Füßen durch und durch kleinstädtische Bourgeois“ den Ton angäben. Ein Vorwurf, der zum Standardrepertoire aller  innerlinken Polemik gehörte und gehört, und nicht erst bei Bakunin oder bei Marx mit seinen Ausbrüchen gegen „Bourgeois-Ideologen“ und „Bourgeois-Sozialisten“ auftrat, sondern schon bei den Früh- oder Utopischen Sozialisten wie Saint-Simon und Blanc, die den bourgeois längst als Hauptfeind markiert hatten.

Angesichts dieses Vorlaufs überrascht nicht, daß die Beschimpfung des Bürgers und alles Bürgerlichen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum selbstverständlichen Repertoire linker „Kraftausdrücke“ gehörte. Die Wirkung war angesichts der Machtposition des Bürgertums aber gering. Was nicht nur an der lobenden Rede des „Gutbürgerlichen“ abzulesen war, sondern auch an der faktischen „Verbürgerlichung“ der Oberschicht und den Aufstiegswünschen der Unterschicht, die alles tat, um wenigstens den Anschein von Bürgerlichkeit zu erwecken.

Die Invektiven gegen den bourgeois fanden jenseits der Arbeiterbewegung nur Anklang in der künstlerischen Bohème. Doch behielt deren Verachtung jeder Konvention immer etwas Unernstes, Spielerisches, ähnlich der Antibürgerlichkeit des Wandervogels oder der Lebensreformer. Man ging noch nicht aufs Ganze, und auch wenn an der Jahrhundertwende die Risse im Gefüge der bürgerlichen Ordnung größer wurden, haben doch erst Weltkrieg und Weltrevolution jene „Sekurität“ prinzipiell in Frage gestellt, die die wichtigste Basis des bürgerlichen Selbstgefühls war. Was auch erklärt, warum die Angriffe auf den bourgeois nun nicht mehr nur von links, sondern auch von rechts erfolgten.

Gemeinsam war beiden der Tonfall der Verachtung. Aber der Vorwurf auf der Rechten lautete, daß der Bürger Inbegriff der Dekadenz sei, daß seine Berufung auf Vernunft und Diskussion nur über Opportunismus und Feigheit hinwegtäuschen sollten, daß es ihm an Vitalität im elementaren Sinn fehlte. Der Angriff galt nicht dem Bürger als Klassenvertreter, sondern als Typus, der für den Niedergang des Reiches, Europas oder der weißen Rasse verantwortlich sei. Seine Munition waren weniger ethische als ästhetische Motive, nicht die Marx-, sondern die Nietzsche-Lektüre.

Das Gemeinte kann man an der Schlüsselbedeutung des Wortes „Ekel“ in den Schriften der Nationalisten der Weimarer Zeit ablesen. So hieß es bei Ernst Jünger über den bürgerlichen Patrioten, dem angeblich das Vaterland am höchsten stand, daß man in ihm keinen Alliierten sehen sollte, denn er verkörpere das „ewig Bürgerliche“: „es ist überall derselbe Mangel an Anteilnahme, an Begeisterung und Opferwilligkeit, der uns abschreckt und entsetzt“.

Der Satz stammt aus dem Jahr 1927 und einer Phase seiner Entwicklung, in der Jünger die Sowjetunion als das Modell einer antibürgerlichen Ordnung zu faszinieren begann. Sie fand ihren Höhepunkt und Abschluß in dem kurz vor Hitlers Machtübernahme erschienenen Buch „Der Arbeiter“, das viele Zeitgenossen als Programm eines „Nationalbolschewismus“ lasen.

Carl Schmitt setzte auf die Bildung

Jünger hat den letzten Schritt in diese Richtung so wenig vollzogen wie den hin zum Nationalsozialismus. Vielmehr begann bei ihm eine Bewegung, die man als Wiederverbürgerlichung bezeichnen konnte und deren sinnfälliger Ausdruck jenes Foto ist, das ihn 1953 gemeinsam mit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zeigt, beide ganz bürgerlich gekleidet, in Anzug und Krawatte. Etwa zu demselben Zeitpunkt schrieb der Staatsrechtler Carl Schmitt, der oft in einem Atemzug mit Jünger genannt wird, daß nun zwar alle Welt auf dem Grab des Bürgers tanze, von dessen historischer Leistung niemand mehr etwas wissen wolle, zumal sie auf Gier nach Erwerb und Besitz reduziert werde. Tatsächlich sei das Entscheidende aber nicht das Materielle, sondern die Bildung als bürgerliche Errungenschaft, und der traute Schmitt zu, sich unter noch so widrigen Umständen zu erholen, „wenn sie nicht in fremden Diensten untergeht, nicht im Mülleimer der entfesselten Technik verdirbt“ und wenn man sich auf die Voraussetzungen solcher Bildung besinne: „freie Intelligenz und geistiger Mut“.