© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Geisterlandschaft und Hungertod
Nahrung für die NS-Propaganda: Vor 75 Jahren wurde in Quebec der Morgenthau-Plan beschlossen
Karlheinz Weißmann

Am 26. September 1944 erschien der Völkische Beobachter mit der Schlagzeile „Morgen-thau übertrifft Clemenceau – 40 Millionen Deutsche zuviel. Roosevelt und Churchill machten sich Judas Mordplan zu eigen“. Was damals zum üblichen „Narrativ“ gehörte, muß heute erklärt werden. Gemeint war in der Überschrift Henry J. Morgenthau, der US-amerikanische Finanzminister, auf den ein Plan zur Behandlung Deutschlands nach dem erwarteten Sieg der Alliierten zurückging. Den hatte er dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und dem britischen Premierminister Winston Churchill vorgelegt, die ihm trotz seiner Brutalität zustimmten. Damit, so die Suggestion der NS-Propaganda, hatten sich die Alliierten ein Projekt zu eigen gemacht, das angeblich sogar das Georges Clemenceaus, des französischen Regierungschefs im Ersten Weltkrieg, überbot, einen Großteil des deutschen Volkes zu liquidieren. Daß davon keine Rede sein konnte (trotz Clemenceaus notorischem Haß auf die „boches“) erscheint indes als Kleinigkeit, verglichen mit der eigentlichen Pointe, daß sich nämlich nach Auffassung des NS-Parteiorgans in Gestalt Morgenthaus „Juda“ selbst, mithin der „Weltfeind“, der westlichen Kriegsgegner bediente, um Deutschland und die Deutschen auszulöschen.

Es gab in Washington wie in London früh Stimmen, die davor warnten, daß man Hitlers Regime mit dem Morgen-thau-Plan eine propagandistische Steilvorlage liefere. Aber das hielt Morgen-thau nicht davon ab, am 4. September 1944 sein „Programm, um Deutschland zu hindern, einen Dritten Weltkrieg zu beginnen“ schriftlich zu fixieren. Die 14 Punkte sahen vor: Absetzung der Regierung und Liquidierung der Hauptverantwortlichen ohne Gerichtsverfahren, Abtrennung Schlesiens und Ostpreußens sowie der Saar vom Reichsgebiet, dessen verbleibender Rest in zwei separate Länder aufgegliedert werden sollte. 

Faktisch hätte es sich um Protektorate oder Kolonien gehandelt, besetzt und ohnmächtig schon deshalb, weil immense Reparationszahlungen zu leisten und gleichzeitig die Industrie zu demontieren war. Zahllose Hungertote nahm Morgenthau dabei ebenso billigend in Kauf wie eine weitere Schwächung der Bevölkerungszahl durch die Deportation von Deutschen zur Zwangsarbeit. Auf den Einwand, daß so das Ruhrgebiet zu einer „Geisterlandschaft“ werden würde, entgegnete er: „Mich interessiert das Schicksal der Bevölkerung nicht. (...) Wir haben diesen Krieg nicht gewollt, wir haben nicht Millionen Menschen in die Gaskammern geschickt. Wir haben keine von diesen Dingen getan. Sie [die Deutschen] wollten es nicht anders haben.“ 

Humanitäre Erwägungen spielten keine Rolle

Morgenthau machte auch sonst kein Hehl aus seiner Bereitschaft, fallweise „Hitlers eigene Methode“ anzuwenden oder doch nur um weniges dahinter zurückzustehen. In einer Besprechung mit dem Kriegsminister Henry L. Stimson und dem Unterstaatssekretär (nachmaligen Hohen Kommissar in der Bundesrepublik) John J. McCloy äußerte er, daß er auch vor der Verschleppung von 40 Millionen Menschen nicht zurückschrecke: „Nun, das ist nicht annähernd so schlimm, wie wenn man sie in Gaskammern schickte.“

Daß Morgenthau erwarten durfte, die Zustimmung Roosevelts und Churchills zu erhalten, hing damit zusammen, daß sie seine Vorstellung von der Kollektivschuld der Deutschen teilten und damit verbunden die Absicht, sie durch einen Straffrieden daran zu hindern, noch einmal nach der „Weltherrschaft“ zu greifen. Derartige Konzepte waren schon seit dem Ersten Weltkrieg im Umlauf. Damals hatte es vor allem auf französischer Seite Vorschläge zur dauerhaften Zerschlagung der Reichseinheit, Abtrennung großer Gebietsteile und Dezimierung der Bevölkerung gegeben. Die waren aber zur Enttäuschung der Scharfmacher im Versailler Friedensvertrag nur unvollständig umgesetzt worden. Dessen „Milde“ machten Männer wie Morgenthau verantwortlich für den Wiederaufstieg Deutschlands. 

Die immer radikaler werdende antisemitische Politik des NS-Regimes tat für ihn als Juden ein übriges. Seit Jahresanfang 1943 konnte Morgenthau sicher sein, daß es in den Konzentrationslagern zur Massentötung von Juden kam. Ende des Jahres trafen sich Roosevelt, Churchill und Stalin zum ersten Mal persönlich und verhandelten darüber, wie mit Deutschland nach dem Sieg der Alliierten zu verfahren sei. Obwohl es nicht zu formellen Abmachungen kam, war die Tendenz eindeutig und entsprach weitgehend dem, was Morgenthau später ausarbeiten sollte: Annexion der deutschen Ostgebiete zugunsten Polens und Vertreibungsmaßnahmen, Zerschlagung der staatlichen Einheit Deutschlands, Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung, Demontage, Stillegung des Ruhrgebiets, Liquidierung von Teilen der als verantwortlich betrachteten Bevölkerung. In Teheran war auch darüber „gescherzt“ worden, 50.000 deutsche Offiziere und Fachleute summarisch zu erschießen.

Morgenthau kannte außerdem Roosevelts antideutschen Affekt, der schon seit Jahrzehnten einen Entscheidungskampf gegen das Deutsche Reich für unausweichlich hielt, und Churchill köderte er damit, daß die Beseitigung der Konkurrenz durch die deutsche Schwerindustrie Großbritannien Mehreinnahmen zwischen 300 und 400 Millionen Pfund pro Jahr bringen konnte. Humanitäre Einwände spielten dabei kaum eine Rolle, auch wenn Stimson davon sprach, daß Morgenthau die Deutschen einem „Zustand der Sklaverei“ ausliefern wollte oder der Bundesrichter Robert H. Jackson (nachmals Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen) meinte, dessen Pläne seien offenbar auf den „Gedanken des Konzentrationslagers“ fixiert.

Während der Konferenz in Quebec vom 12. bis 16. September 1944 paraphierten Roosevelt und Churchill eine leicht geänderte Variante des Morgen-thau-Plans. Allerdings verstärkte sich die Kritik in der Folgezeit. Churchills Berater wiesen darauf hin, daß nach der Erledigung des deutschen Problems ein russisches zu bewältigen sein werde und ein geschwächtes Deutschland kaum als Bollwerk gegen Stalins Expansionsabsichten taugte. In den USA spielte eine ausschlaggebende Rolle, daß der Plan durch eine Indiskretion an die Presse gekommen war und die Veröffentlichung zu massiven Irritationen in der Bevölkerung führte. Das drohte Roosevelts Kampagne für die kommende Präsidentschaftswahl zu gefährden und ließ den „getriebenen Messias“ (Golo Mann) wenigstens äußerlich umschwenken. Möglicherweise hat aber auch die Sorge den Ausschlag gegeben, daß das von Morgenthau anvisierte „geordnete Chaos“ Deutschland unkontrollierbar machen werde. Am 22. September, kaum eine Woche nach ihrer Zustimmung, ließen Churchill und Roosevelt den Morgen-thau-Plan fallen. 

Morgenthaus Pläne nach 1945 zum Teil umgesetzt

Die in der Literatur regelmäßig wiederholte Behauptung, der Morgenthau-Plan habe deshalb keine Bedeutung für die alliierte Besatzungspolitik gehabt, entspricht aber nicht den Tatsachen. Trotz erheblicher Abschwächung wurde er zur „Grundlage der Besatzungspolitik“ (Detlef Junker). Sein Ungeist war in der berühmten Direktive JCS 1067, die die Behandlung des „besiegten Feindstaates“ festlegte, ebenso zu spüren, wie in den Bestimmungen des Protokolls der Potsdamer Konferenz. Das gilt insbesondere für die Punkte, die den Abbau der Industrie, die Entnahme von Reparationen aus der laufenden Produktion, die „geordneten Umsiedlungen“ und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln betrafen. 

Darüber hinaus unterschied man in der Folgezeit ganz selbstverständlich zwischen „Morgenthauern“ und „Anti-Morgenthauern“, wenn es um die Besatzungsoffiziere ging. Von ersteren hatten die Deutschen nichts Gutes zu erwarten. Ihr Einfluß schwand nur nach und nach als Folge des Kalten Krieges. Als es darum ging, die Deutschen für die eigene Seite zu gewinnen, war dann sogar ein „Morgenthauer“ wie Dwight D. Eisenhower bereit, seine Bestrafungsphantasien hinter sich zu lassen und in denjenigen, die ihm gestern noch als fluchwürdiges Verbrechervolk erschienen waren, genehme Verbündete zu sehen.