© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

„Wiesen sind heute zikadenleer“
Insektensterben in der Endlosschleife / Die Wissenschaft arbeitet, die Politik schläft
Christoph Keller

Nach langem Hin und Her hat das Bundeskabinett sein „Aktionsprogramm Insektenschutz“ verabschiedet. „Die Biene ist systemrelevant“, erklärte Agrarministerin Julia Klöckner (CDU). Die Anwendung des umstrittenen Unkrautbekämpfungsmittels Glyphosat soll daher in Deutschland bis Ende 2023 beendet werden. Auch der Einsatz anderer Pestizide solle stark eingeschränkt und in ausgewiesenen Instektenschutzgebieten verboten werden.

Umweltverbände oder der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft begrüßten das. Für den Deutschen Bauernverband ist diese Novelle hingegen „toxisch“. Es sei „eine agrarpolitische Fehlentscheidung“, wenn über das gültige Fachrecht hinaus zusätzliche Auflagen die Landwirtschaft belasten und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit deutlich schwächen“, erklärte Bauernpräsident Joachim Rukwied. Wenn dieses Gesetzespaket umgesetzt werde, „wird das zu weiterem Frust und Perspektivlosigkeit unter den Landwirten führen.“

30.000 Windturbinen als zusätzliche Insektenkiller

Daß das Insektensterben wirklich „dramatisch“ (Umweltminsterin Svenja Schulze, SPD) ist, läßt sich im Organ des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) nachlesen: Im Schwerpunktheft „Rückgang der Insektenvielfalt“ (Natur und Landschaft, 6/7/19) steht nicht das ansonsten als „globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts“ verteufelte CO2, sondern die ohne Insektizide unrentable industrielle Agrarwirtschaft am Pranger.

Die Biomasse der Fluginsekten in ausgewählten Schutzgebieten ist zwischen 1985 und 2012 um mehr als 70 Prozent zurückgegangen. Das wies der Entomologische Verein Krefeld schon 2017 nach (JF 44/17). Der langfristige Abwärtstrend auf den Roten Listen des BfN ist bei 45 Prozent der in Deutschland untersuchten 6.921 Insektenarten seit Jahrzehnten ungebrochen. Die Hauptursachen des Insektensterbens – Zerstörung, Fragmentierung, Verinselung von Lebensräumen durch die Agrarwirtschaft, Siedlungsbau sowie Verkehr – seien längst bekannt, nun müsse „die Politik endlich mit konkretem Handeln gegensteuern“. Tatsächlich erschöpft sich das „Gegensteuern“, wie selbst BfN-Mitarbeiter einräumen müssen, in Absichts- und Ankündigungsrhetorik. Dazu gehören die Forderungskataloge der Umweltministerkonferenzen oder das nun verabschiedete „Aktionsprogramm Insektenschutz“.

Solche Programme oder die wohlmeinende „Förderung und Unterstützung des Engagements für Insekten in allen Bereichen der Gesellschaft“ sollen anscheinend Taten ersetzen. Wobei in Natur und Landschaft vornehm verschwiegen wird, daß der Regierungsaktionismus sich mittlerweile auch gegen sich selbst richtet, bedenkt man, in welchem Ausmaß die 30.000 Windturbinen der „Energiewende“ als Insektenkiller ihr blutiges Massenvernichtungswerk verrichten. Damit sich in Berlin überhaupt etwas bewegt, zückt der Umweltökonom Bernd Hansjürgens (Uni Halle-Wittenberg) eine Karte, die heute immer sticht: die „ökonomische Bedeutung der Insekten und ihrer Ökosystemleistungen“.

Neben ihrem großen Anteil an der Erhaltung biologischer Vielfalt schlagen regulierende Leistungen der Insekten, Bestäubung und Eindämmung von Schädlingen, dabei kräftig zu Buche. Er verweist dafür auf eine Reihe internationaler Studien, die mit teils skurril anmutenden Statistiken den volkswirtschaftlichen Wert der weltweit zwei Drittel, in Deutschland sogar drei Viertel aller terrestrischen Tierarten repräsentierenden Insekten exakt beziffern. Global, so eine Studie von 2012, betrage der wirtschaftliche Wert von Bestäubungsleistungen jährlich zwischen 235 und 577 Milliarden Dollar, etwa 0,5 Prozent des Weltsozialprodukts.

Eine erhebliche Reduzierung natürlicher Bestäubungsleistungen ginge mit Versorgungsengpässen und steigenden Preisen einher. Wobei sich die Wohlfahrtsverluste regional unterschiedlich verteilen. In Ostasien, wo Bestäubungsleistungen außerordentlich bedeutend sind, fallen sie höher aus als in der EU und in Deutschland, wo der Jahresgesamtgewinn des Agrarsektors zu zwölf beziehungsweise dreizehn Prozent von den grazilen Bestäubern abhängt. Allein der Ausfall der Bienen brächte den US-Farmern einen Jahresverlust von 1,4 Milliarden Dollar.

Wegfall von Bestäubern bedroht die Landwirtschaft

 Bei dem kompletten Wegfall von Bestäubern wäre weltweit mit dem jährlichen Anstieg der durch Ernährungsmangel verursachten Todesfälle um 1,27 Millionen Menschen zu rechnen. Aber in der Bestäubung erschöpft sich das Dienstleistungsangebot von Insekten nicht. Die Viehindustrie Großbritanniens etwa spart pro Jahr 367 Millionen Pfund, weil ihr der Mistkäfer dabei hilft, Parasiten und Krankheitserreger zu reduzieren, ihr überdies verbesserte Weiden und weniger verdorbenes Futter zur Verfügung stellt. Pro Kuh gehen genau 43,47 Pfund in der ökologischen, 37,42 Pfund in der konventionellen Landwirtschaft auf sein Konto. Ähnlich nützlich machen sich Ameisen auf Kakaoplantagen Westafrikas. Was man dort erkannte, als sie fehlten. Dann gingen die Erträge nämlich um 50 Prozent zurück. Doch das sind nur die regionalen Effekte. 

Da aber die von Hansjürgens referierten, mitunter makabren Kalkulationen ebenfalls seit langem so bekannt sind wie die vielen Abstiegskandidaten unter den Insektenarten auf den Roten Listen des BfN, scheint ihr ökonomisches Drohpotential immer noch nicht groß genug zu sein, um das allseits beschworene „konkrete Handeln“ zu motivieren. 

Denn davon ist nicht einmal auf jenem relativ winzigen Feld ein Hauch zu spüren, das der Göttinger Zikaden-Experte Herbert Nickel absteckt. Ausweislich der Roten Liste sind in Deutschland von 624 indigenen Zikadenarten langfristig 322 zurückgegangen. Und das ohne böse Insektizide. Ursächlich sei, neben „verdunkelnden“ Aufforstungen und zumeist im landwirtschaftlichen Kontext stehenden Wasserbaumaßnahmen (Drainagen), vor allem die Intensivierung der Grünlandnutzung, also die Erhöhung der Schnitthäufigkeit, der Grünlandumbruch und die Überdüngung. Mindestens 13 Prozent der Zikadenarten seien nachweislich durch einseitiges Naturschutzmanagement gefährdet: „Darunter ist eine für viele Insekten katastrophale Früh- und Hochsommermahd zu verstehen, die auf Einzelarten ausgerichtet ist (häufig Orchideen und Wiesenbrüter). In Brandenburg wurde so wahrscheinlich die Zikadenart Ederranus discolor ausgerottet.“

Generell kommt die Wirkung der Mahd als plötzliche, großflächige Entfernung der Pflanzenbiomasse für Nickel einem Kahlschlag gleich, der seit 100 Jahren stetig an technischer Perfektion zunehme und zur überregionalen Homogenisierung der Zikadenzönosen, sprich zur Reduktion von Artenvielfalt, geführt habe. Vielschnittwiesen seien heute daher „weitgehend zikadenleer“, und die meisten der früheren Wiesenarten auf Graben- und Wegränder zurückgedrängt. Diesen Prozeß zu stoppen wäre einfach, wie experimentell nachgewiesen wurde. Denn die Artenzahl nehme mit abnehmender Schnitthäufigkeit wieder erfreulich zu.

Auf hochwertigen Streuwiesen um 25 bis 40, auf extensiven Rinderweiden um bis zu 50 Arten. Das Verschwinden traditioneller Beweidung als wichtigster Faktor für den Artenschwund bei den Zikaden ist mithin einwandfrei identifiziert. Hier wie auf vielen anderen Forschungsgebieten über die Ursachen des Verlusts an Insektenvielfalt, über die Folgen und Handlungserfordernisse, hat die Wissenschaft ihre Hausaufgaben gemacht. Die Politik einer Bundesregierung, die sich gern als ökologischer Musterschüler geriert, definitiv nicht.

Schwerpunktheft „Rückgang der Insektenvielfalt“ von Natur und Landschaft, 6/7/19)

 www.natur-und-landschaft.de

Entomologischer Verein Krefeld e.V. 1905:

 www.entomologica.org