© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

„Die soziale Frage beantworten“
Thüringen I: AfD-Wahlprogramm für Landtagswahl als bundespolitischer Fingerzeig / Linkspartei liegt vorne
Björn Harms

Das ZDF-Interview mit dem Thüringer Landessprecher der AfD, Björn Höcke, läuft gerade zehn Minuten, da tritt Höckes Pressesprecher auf den Plan. Er protestiert, noch während die Kameras laufen: Die angesprochenen Themen seien vorher nicht angekündigt worden, wirft er dem ZDF-Interviewer an den Kopf. Der widerspricht. Alles sei vorab genauestens geklärt worden. 

Im Interview, das am Sonntag in der Sendung „Berlin direkt“ ausgestrahlt wurde, wird versucht, dem AfD-Politiker sprachlich eine Nähe zur NS-Rhetorik nachzuweisen. Schließlich nutze auch Höcke Begriffe wie „entartet“ oder „Lebensraum“. Das Gespräch dreht sich irgendwann im Kreis. Höcke bricht das Interview schließlich ab, weil auch er von einem anderen Schwerpunkt ausgegangen war. Sein Sprecher habe ihm gesagt, es gehe „um Landtagswahlen und es geht vor allen Dingen um den Wahlkampf“. Doch falsch gedacht.

Dabei gäbe es über den Thüringer Wahlkampf der AfD eine Menge zu berichten. Das vor zwei Wochen vorgestellte Wahlprogramm hat es durchaus in sich – vor allem aus innerparteilicher Sicht. Denn die zentralen Thesen des Papiers könnten die Diskussion um die wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung der Gesamtpartei erneut befeuern. 

„Die heutige soziale Frage muß dringend beantwortet werden“, lautet eine der zentralen Forderungen im Wahlprogramm. Großangelegte Reformen seien aufgrund der „Schieflage der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung“ notwendiger denn je. „Die Altparteien-Politik der Agenda 2010 hat neue Gerichtigkeitslücken geschaffen.“ 

Der Landesverband bekennt sich in seinem Wahlprogramm zu einer sozialen Marktwirtschaft, die auf „Privateigentum, Eigeninitiative und persönlicher Leistung“ beruht. Der dadurch erlangte Wohlstand dürfe jedoch für die Erwerbstätigen „weder durch übermäßige Steuerbelastung beschnitten werden, noch dadurch, daß abhängig Beschäftigte nicht angemessen entlohnt werden“. Diese unzureichende Lohnentwicklung und „die lückenhafte Besteuerung von Großunternehmen“ seien eine wesentliche Ursache der „Finanzierungsprobleme unseres Sozialstaates“, heißt es weiter.

Überhaupt steht der Sozialstaat an vielen Stellen des Wahlprogramms im Fokus. So will der Landesverband unter anderem ein Familiendarlehen einführen, dessen Rückzahlung sich in Abhängigkeit von der Kinderzahl verringert. Klare Kante zeigt die Partei auch beim Rentenkonzept: „Wir stehen zur umlagefinanzierten Rentenversicherung!“, heißt es in dem Papier. Die „Finanzierungsbasis des Rentensystems“ müsse „erweitert“ werden. Zudem dürften „private Rentenprodukte wie die sogenannte Riester- und die Rürup-Rente nicht länger staatlich subventioniert werden“.

CDU droht schlechtestes Ergebnis seit der Wende

Klar ist: Über die Rente kann nur im Bund entschieden werden, noch hat sich Höcke in der Bundespartei nicht durchsetzen können. Der Widerstand, insbesondere von Parteichef Jörg Meuthen, der eine langfristige Überwindung der Umlagerente befürwortet, ist groß. Zur Klärung der Frage hätte am vergangenen Wochenende eigentlich der Sozialparteitag stattfinden sollen. Doch sehr zum Ärger Höckes wurde das Treffen durch den Bundesvorstand ins kommende Jahr verschoben. Die Fronten zwischen „Wirtschaftsliberalen“ und „Sozialpatrioten“ bleiben verhärtet. 

Beinahe kuschelig ging es dagegen am Montag abend im MDR zu, als die thüringischen Spitzenkandidaten aller im Landtag und im Bundestag vertretenen Parteien erstmals aufeinandertrafen. Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) warb hier in trauter Dreisamkeit mit den Spitzenkandidaten der Grünen und der SPD für ein rot-rot-grünes Bündnis. 

Weil die letztgenannten Parteien laut der jüngsten Dimap-Umfrage jedoch nur auf acht bzw. sieben Prozent kämen, hätte die Koalition mit 43 Prozent derzeit keine Mehrheit. Ein Bündnis mit der AfD haben bereits alle Parteien ausgeschlossen. Die Linkspartei hält sich stabil auf Platz eins, insbesondere Ramelow erfreut sich in der Bevölkerung großer Beliebtheit. Zwei von drei Thüringern (65 Prozent) sind mit ihrem Ministerpräsidenten zufrieden bis sehr zufrieden.

Der vom Thüringer CDU-Chef Mike Mohring propagierte „Aufbruch 2019“ könnte dagegen schon gescheitert sein, bevor er überhaupt so richtig anfing. In den derzeitigen Umfragen liegt seine Partei bei rund 22 Prozent. Die CDU dürfte bei den Landtagswahlen am 27. Oktober genau wie die SPD den niedrigsten Wert seit dem Mauerfall einfahren. 

Gemäß der Dimap-Umfrage sind den Thüringern drei Themen am wichtigsten, die auch in der MDR-Sendung heiß diskutiert wurden: Bildung, Einwanderung und die Stärkung des ländlichen Raums. Fast alle Parteien haben in ihren Wahlprogrammen ausführlich dazu Stellung bezogen. Einigkeit herrschte am Montag auch darüber, daß nach der gescheiterten Thüringer Kreisgebietsreform – die rot-rot-grüne Koalition wäre daran fast zerbrochen (JF 35/17) – alle künftigen Zusammenschlüsse von Kreisen, nur freiwillig und unter Beteiligung der Bürger möglich sein sollten.

Die CDU verspricht zusätzlich allen Thüringern, die ihren Wohnsitz zurück in ihre Heimat verlegen, eine Rückkehr-Prämie von 5.000 Euro, während die AfD mit einer geplanten „Abschiebeinitiative 2020“ aufhorchen läßt. Eines jedoch hatte das MDR-Gespräch dem ZDF-Interview mit Björn Höcke voraus: Es ging um konkrete Inhalte des Thüringer Wahlkampfs, diverse Vorwürfe blieben außen vor. Kein Grund also für Höckes Pressesprecher, hier einzugreifen.