© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Dienst nach Vorschrift
Weihnachtsmarkt-Attentat: Zwischenbilanz im Untersuchungsausschuß / Zweifel an Einzeltäter-These
Christian Vollradt

Irgendwann schimmert bei Armin Schuster (CDU) so etwas wie Sarkasmus durch: „So wird man Regierungsamtsrätin – immer schön nach Vorschrift arbeiten“, meint der sonst betont besonnen-sachlich auftretende Vorsitzende des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin vom 19. Dezember 2016. Die spitze Bemerkung des Unionsabgeordneten zielt auf eine Zeugin, die am vergangenen Donnerstag von den Abgeordneten befragt wurde. Sie ist mit Anfang 30 auf der Karriereleiter des gehobenen Dienstes bereits weit nach oben gestiegen und war zwischen Juli 2015 und Juli 2017 als Verbindungsbeamtin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Rom stationiert. 

Zweimal habe sie in dieser Zeit mit Anfragen aus Deutschland zur Person des Attentäters Anis Amri zu tun gehabt, einmal vor und einmal nach dem Anschlag. Daß bereits die erste Anfrage mit der Bemerkung „Eilt sehr“ sowie drei Ausrufezeichen aus dem Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) versehen war, schien für die Beamtin nichts Spektakuläres gewesen zu sein: Amri war ein Fall unter sehr vielen. Es hätte, so räumte die Zeugin ein, auch keinen großen Unterschied gemacht, wenn sie gewußt hätte, daß er als Gefährder eingestuft war und bereits eine Haftstrafe in Italien verbüßt hatte. 

„Verantwortungslos der Allgemeinheit gegenüber“

Ihre Aufgabe habe lediglich darin bestanden, E-Mails des Bamf aus Deutschland mit Gesuchen gemäß dem Dublin-Verfahren an die zuständigen Stellen der italienischen Partnerbehörde weiterzuleiten, auf deren Asyl-Datenbank sie selbst nicht zugreifen konnte. Auf die deutsche von Italien aus auch nicht. Eigene Recherchen gehörten daher nicht zu ihren Aufgaben. Die Zusammenarbeit mit der italienischen Seite sei ihrer Meinung nach gut gewesen. Da haken einige Abgeordnete nach: Das meine sie, obwohl nur zehn Prozent der deutschen Dublin-Rücknahmeersuchen nach Italien erfolgreich waren? Ja, denn das, so die Zeugin, sei der Personalnot auf italienischer Seite geschuldet gewesen. Dienst nach Vorschrift eben …

Nach der Sommerpause setzt der Untersuchungsausschuß zu den Hintergründen des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, bei dem der abgelehnte tunesische Asylbewerber mit einem Lkw zwölf Menschen getötet hatte, seine Arbeit fort. Optimisten unter seinen Mitgliedern wollen bis zur nächsten Sommerpause die Arbeit abschließen. Gelegenheit für eine Zwischenbilanz. Fast alle Obleute sind der Überzeugung, daß Amri die Tat weder spontan noch auf eigene Faust verübt hatte. Die These vom Einzeltäter wurde zuletzt auch durch Medienberichte über Videoaufnahmen erschüttert, auf denen ein weiterer Mann zu sehen sein soll, der den Tatort fluchtartig verläßt. Zeigen sie einen möglichen Komplizen Amris? Ermittler widersprachen dem stets – etwa als Zeugen im Untersuchungsausschuß. Auch die Behörden bis hin zum Bundesinnenministerium wiederholen, es lägen diesbezüglich „keine verfahrensrelevanten Erkenntnisse“ vor. Doch die Abgeordneten wurden hellhörig, vor allem wegen der überstürzten Abschiebung eines Vertrauten Amris, des Tunesiers Bilel Ben Ammar, an der man von höchster Stelle ein „erhebliches Interesse“ geäußert habe (JF 11/19).

„Daß an der Einzeltäter-These dennoch festgehalten wird, hat vor allem politische Gründe“, ist die Obfrau der AfD im Untersuchungsausschuß, Beatrix von Storch, überzeugt.Denn wenn man von ihr abrücke, werde sehr schnell klar: „Man kann den islamistischen Terror nicht bekämpfen, wenn man nicht das Umfeld ins Visier nimmt, in dem sich Terroristen wie Amri bewegen konnten, ohne aufzufallen“, sagte die Berliner Abgeordnete im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. „Es gibt Moscheen und Netzwerke, die sowohl für die Vorbereitung der Tat als auch zum Verschleiern nach der Tat genutzt wurden.“ Welche Bedeutung sie hätten, liege auf der Hand: „Deswegen gibt es diesen Terror ja bei uns – und nicht in Krakau.“

Doch anstatt diese Mißstände zu beseitigen, suggeriere der Staat Sicherheit, indem man vorgibt, Gefährder rund um die Uhr überwachen zu können. Das sei rein logistisch schon nicht möglich. „Der institutionalisierte Umgang ist verantwortungslos der Allgemeinheit gegenüber.“ Ein weiterer Punkt, der sich für die stellvertretende Fraktionsvorsitzende aus der Arbeit ergab, ist die Überzeugung: „Der Staat war näher dran an Amri als gedacht.“ Der Verfassungsschutz habe bei Zeugenbefragungen auffallend viel abgeblockt. Andererseits, kritisierte von Storch, seien zu viele Zeugen befragt worden, die nichts Wesentliches zur Aufklärung beitragen konnten, etwa wenn es stundenlang um Amris Schwarzfahrdelikte ging. Auch seien die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter mit Datenmaterial voller Nebensächlichkeiten oder Schwärzungen überschüttet worden, da habe man nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen suchen müssen.

Allerdings gilt für den Untersuchungsausschuß – losgelöst vom Attentat auf den Weihnachtsmarkt: „Was in den Zeugenbefragungen noch einmal deutlich wurde, ist der Kontrollverlust des Staates im Verlauf der Flüchtlingskrise seit 2015“, resümiert die AfD-Obfrau. Das mache es um so notwendiger, daß endlich die politisch verantwortlichen, allen voran die Bundeskanzlerin, als Zeugen befragt werden müßten. Doch wie es scheint, haben daran – aus unterschiedlichen Beweggründen – weder die Koalitionsfraktionen noch Grüne oder Linke ein gesteigertes Interesse. Und so wird es bis zur nächsten Sommerpause weitergehen: mit Dienst nach Vorschrift.